Das klassische Delirium tremens ist häufig, der Verlauf oft gleichförmig – doch diese beiden Fälle passen nicht ins Raster. Willkommen in den Grauzonen des Alkoholentzugs.
Wer an einen Patienten mit Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens) denkt, hat meist ein eindeutiges klinisches Bild mit klarem zeitlichen Ablauf vor Augen. Symptome: Unruhe, Tremor, Tachykardie, Halluzinationen, Orientierungsstörungen. Beginn der Entzugssymptomatik: wenige Stunden nach dem letzten Schluck. Beginn eines Delirs: nach etwa 48 bis 72 Stunden. Ungefähre Dauer: eine Woche.
Aber zwei Fallberichte zeigen, dass das Delirium tremens auch ganz anders kann – verzögert, protrahiert oder schubweise. Es ist also Zeit, das Bewusstsein für ungewöhnliche Verläufe zu schärfen.
Beginnen wir mit dem klassischen Verlauf eines Alkoholentzugsdelirs. Es betrifft bis zu 5 % der Alkoholiker. Wichtig ist: Jedes Alkoholentzugsdelir ist ein potenziell tödlicher Notfall. Unbehandelt versterben bis zu 15 % der Patienten, behandelt etwa 1–2 %. Ein Entzugsdelir beginnt meist etwa 48–72 Stunden nach Reduktion bzw. Beendigung des Alkoholkonsums. Nach etwa 4 Tagen ist in der Regel das Maximum der Symptomatik erreicht. Oft klingen die Beschwerden nach etwa einer Woche ab – in schweren Fällen ziehen sie sich auch über 2 Wochen.
Verursacht wird die Symptomatik durch ein Ungleichgewicht im zentralen Nervensystem. Nach chronischer Alkoholaufnahme ist die GABAerge Hemmung dauerhaft aktiviert, die glutamaterge Erregung gleichzeitig heruntergefahren. Fällt der Alkohol abrupt weg, kippt dieses Gleichgewicht. Die Folge ist eine neuronale Übererregbarkeit mit typischen Symptomen (s. Infobox).
Ein Alkoholentzug sollte allgemein engmaschig überwacht werden. Wichtig sind die Vitalparameter, Blutzuckerkontrollen aufgrund einer erhöhten Hypoglykämiegefahr, CK-Kontrollen zur Erkennung einer Rhabdomyolyse sowie die klinische Überwachung der Entzugssymptome. Therapeutisch kommen Benzodiazepine oder Clomethiazol zum Einsatz. Sie werden oft nach einem festen Dosierschema verabreicht. Optische Halluzinationen und Wahnsymptome werden mit Antipsychotika wie Haloperidol behandelt. Je nach Symptomatik können Betablocker und Clonidin indiziert sein. Thiamin (Vitamin B1) senkt das Risiko einer Wernicke-Enzephalopathie.
Der 34-jährige Herr H. trinkt seit mehreren Jahren zu viel Alkohol. Zuletzt fehlte er deswegen häufiger bei der Arbeit. Zu Beginn trank er nur mit Freunden, dann Stück für Stück mehr. Seit etwa 6 Jahren konsumiert er täglich 1–2 Liter Schnaps, meist beginnt er damit direkt nach dem Aufstehen. Trinkt er mal weniger, zittern seine Hände. Beim Gehen fühlt er sich häufig unsicher. Vor der stationären Aufnahme hat er noch nie versucht, seinen Konsum zu reduzieren. Abgesehen vom ausgeprägten Alkoholkonsum sind keine Vorerkrankungen bekannt.
Bei der Aufnahme zum stationären Alkoholentzug ist Herr H. orientiert und aufmerksam. Bei der Untersuchung fallen ein leichter Tremor der Zunge und der Extremitäten, ein Nystagmus und eine dysarthrische Sprache auf. Zudem sind die erschwerten Gangproben auffällig. Er geht breitbasig, der Romberg-Test ist positiv. Zudem sehen die Ärzte eine Dysdiadochokinese und Intentionstremor. Die Ärzte vermuten eine Wernicke-Enzephalopathie. Der Patient erhält u.a. Thiamin und Lorazepam p.o. (2 mg/6h). In den folgenden Tagen hat Herr H. verschiedene Entzugssymptome, darunter moderates Fieber und Hypertonie. Er stürzt mehrfach, jedoch ohne Kopfanprall. Er erhält eine antibiotische und antipyretische Therapie. Nach etwa einer Woche sistieren die Symptome Stück für Stück – genau wie die Ärzte erwarten. Herr H. kann gut schlafen und hat normalen Appetit. Bis Tag 14 seines Aufenthalts verläuft alles wie im Lehrbuch.
An Tag 14 geht es Herrn H. jedoch auf einmal schlechter. Er beklagt sich über visuelle Halluzinationen und wird von Ängsten geplagt. Er wird zunehmend verwirrt, agitiert und desorientiert, besonders am Abend. Die Symptome lassen die Ärzte zwar an ein Delirium tremens denken, aufgrund des späten Auftretens suchen sie jedoch nach anderen Ursachen für die Delir-Symptomatik – jedoch ohne Erfolg. Neben den psychiatrischen Symptomen kommt auch die Kleinhirnsymptomatik zurück. Herr H. erhält Haloperidol und Lorazepam. Nach 4 Tagen ist der Spuk schließlich vorbei. Eine Ursache finden die Ärzte nach wie vor nicht: Labor, CT und EEG sind alle unauffällig, sodass sich die Behandler auf die Diagnose Delirium tremens festlegen. Sie vermuten, dass in diesem Fall die Art des konsumierten Alkohols – ein nicht näher bezeichneter „Country Liquor” – vermutlich eine selbst gebrannte Spirituose mit hohem Alkoholgehalt – den ungewöhnlichen Verlauf verursacht haben könnte.
Herr W. ist Veteran der US Army und 48 Jahre alt, als er mit schweren Tremor und Gangunsicherheit stationär aufgenommen wird. Die Symptome bestehen seit etwa einer Woche. Bei der Aufnahme sehen die Ärzte einen leicht agitierten, ängstlichen Patienten. Herr W. schwitzt übermäßig. Er berichtet, seit 20 Jahren täglich große Mengen von Alkohol zu konsumieren – auch am Tag der Aufnahme. In den vergangenen Jahren war er mehrfach in stationärer Entzugsbehandlung, zuletzt vor 6 Monaten.
Der Patient wird zum kontrollierten Entzug auf Station aufgenommen und erhält Lorazepam, Thiamin und Folsäure nach Krankenhausprotokoll. Die ersten beiden Tage ist Herr W. stabil, am 3. Tag geht es ihm auf einmal schlechter: Er ist verwirrt, agitiert und zunehmend desorientiert. Die Ärzte verlegen ihn auf die Intensivstation, wo sich die Symptomatik weiter verschlechtert. Er entwickelt taktile Halluzinationen und verhält sich aggressiv. Die Ärzte sind sich sicher: Herr W. durchleidet ein Delirium tremens, trotz der angepassten, intravenösen Lorazepamtherapie. Die Symptome werden Tag für Tag intensiver. Die Ärzte wechseln auf eine i.v.-Gabe von Midazolam an Tag 9.
Endlich verbessern sich die Symptome etwas und die Behandler wagen den Wechsel zurück zu Lorazepam alle 2 Stunden. Doch an Tag 16 geht es Herrn W. wieder schlechter, die Halluzinationen werden wieder ausgeprägter. Er erhält 2 mg Lorazepam alle 14 Minuten über eine Stunde – ohne Erfolg. Also geht es wieder zurück zu Midazolam. Derweil läuft die Ursachensuche. Die Ärzte finden keinerlei Auffälligkeiten. An Tag 24 ändern die Behandler ihre Strategie und ergänzen die Therapie mit Phenobarbital. Endlich sehen sie einen anhaltenden Erfolg. Stück für Stück können die Medikamente reduziert werden. Jeder Versuch, das Ausschleichen zu beschleunigen, resultiert in einer erneuten Verschlechterung – es bleibt also nur Geduld. Das Ausschleichen dauert weitere 28 Tage an. Im Anschluss nimmt Herr W. an einem 4-wöchigen Rehabilitationsprogramm teil. Kurz nach Entlassung folgt jedoch der Rückfall – Teil der traurigen Realität der Arbeit in der Suchtmedizin.
Im Fall von Herrn W. sind sowohl der protrahierte Verlauf, als auch das Fehlen von möglichen Ursachen für diesen bemerkenswert. Schätzungsweise verlaufen etwa 5 % der Alkoholentzugsdelire protrahiert, die betroffenen Patienten haben dann jedoch meist mehrere Komorbiditäten. Im vorliegenden Fall gab es bis auf eine bekannte Hypertonie keinerlei Risikofaktoren.
Bildquelle: Getty Images, Unsplash