KOMMENTAR | Viele lassen sich mittlerweile alle vier Weisheitszähne entfernen – obwohl sie keine Probleme machen. Warum ich davon abrate und wofür genau diese Zähne dann später fehlen.
Alle vier Weisheitszähne auf einmal entfernen? Klingt bequem und verlockend – man ist „schneller damit durch“, hat es dann „hinter sich“. Ob das wirklich eine so gute Idee ist oder ob dieses Vorgehen Nachteile hat, möchte ich einmal hier beleuchten.
In den letzten Jahrtausenden gab es eine Entwicklung im humanen Schädelbereich: Der Gesichtsschädel (Viszerokranium) verkleinerte sich. Der Bereich des Hirnschädels (Neurokranium) dagegen wuchs verhältnismäßig stark, um hinzugewonnener Hirnmasse Platz zu machen. Durch das geringere Platzangebot im Bereich des Gesichtsschädels wurde es auch für die Zähne zunehmend enger. Eine geringere Größe sorgt in manchem Kiefer für Platzmangel, sodass für die zuletzt durchbrechenden Weisheitszähne kaum noch Raum übrig ist.
Doch der Platzmangel betrifft nicht alle Menschen – viele, wie auch der Autor dieser Zeilen, sind im Besitz ihrer Weisheitszähne, ohne dass diese jemals Probleme bereitet hätten. Prognosen, ob die in Zukunft noch durchbrechenden Weisheitszähne genügend Platz im Kiefer finden, sind ein Fall für die Glaskugel und daher unseriös, wenn sie vor dem 20. Lebensjahr gemacht werden. Niemand kann vorhersagen, ob ein Patient einen problematischen Zahndurchbruch der Weisheitszähne zu erwarten hat oder ob es noch einen Wachstumsschub im Bereich des Kiefers geben wird, der den Weisheitszähnen genügend Platz schaffen wird.
Zahngröße und Kiefergröße sind zwei völlig verschiedene genetische Faktoren, die auf unterschiedlichen Allelen determiniert werden. Allzu häufig überweisen Kieferorthopäden noch jugendliche Patienten zur Weisheitszahnentfernung, um ein Ergebnis der kieferorthopädischen Behandlung zu „sichern“. Dass diese Vorsichtsmaßnahme unsinnig ist, die spätere Verschiebung der Frontzähne gar dem Anschub durch Weisheitszähne zugeschrieben wird, zeigen uns unzählige Patienten, deren Frontzähne sich verschieben, obwohl bei ihnen gar keine Weisheitszähne angelegt sind. Diese Theorie, gerne auch als „tertiärer Schub“ bezeichnet, sollte tunlichst verworfen und gerne auch ausgelacht werden. Gründe dafür gibt es viele.
Selbst im Falle eines Platzmangels machen längst nicht alle Weisheitszähne Probleme: Obere Weisheitszähne sind niemals für problematische Durchbrüche (Dentitio dificilis) verantwortlich. Es sind stets die unteren Weisheitszähne, die beim Durchbruch im Falle eines vorhandenen Platzmangels Probleme schaffen können. Grund dafür ist der Speichelsee, der mit seiner Bakterienlast für Entzündung sorgen kann.
Die allzu oft gewählte Variante der Entfernung aller Weisheitszähne in Intubationsnarkose (ETN) mag verlockend sein. Sie ist allerdings mit einer erhöhten Komplikationsrate verbunden, weil nach Entfernung der Weisheitszähne keine gesunde „Kauseite“ zur Verfügung steht. Speisereste können sich in den frischen Operationswunden ansammeln und den umliegenden Knochen schmerzvoll infizieren. Daher ist ein einseitiges Vorgehen stets die bessere Lösung, weil dadurch eine komplikationslose Abheilung der Extraktionswunden eher zu erwarten ist und Schmerzen unwahrscheinlich sind.
Ich rate in der Praxis generell von der Entfernung oberer Weisheitszähne ab, weil diese später als Reserve sehr gut in vorhandene Zahnlücken transplantiert werden können. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Zahnlücke im Ober- oder Unterkiefer auftritt. Als autologes Transplantat hat ein Weisheitszahn hervorragende Einheilungsschancen und bietet – wenn die Transplantation fachmännisch durchgeführt wird – eine hervorragende Langzeitprognose. Obere Weisheitszähne zu entfernen bedeutet, sich um die Chance zu bringen, bei einer notwendig gewordenen Zahnextraktion mit allerfeinstem Zahnersatz reagieren zu können: der körpereigenen Substanz.
Es sind die Sechser, die ersten großen Backenzähne, die im Alter von 6 Jahren durchbrechen und aufgrund des noch nicht ausgewachsenen Kieferknochens beengt am Ende der Zahnreihe stehen. Die Pflege der Sechser stellt sowohl für Kinder als auch für helfende Eltern eine echte Herausforderung dar. So ist es zu erklären, dass Sechser häufig schon im Kindesalter von Karies betroffen sind. Die Sechser sind in der Regel die Zähne, die mit hoher Wahrscheinlichkeit schon früh gefüllt werden müssen.
Das Kariesrisiko geht einher mit hohem Risiko einer bakteriellen Folgeinfektion der Pulpa. Wurzelbehandlungen und auch Extraktionen können manchmal die unausweichliche Folge eines frühzeitigen kariösen Schadens sein. Es sind die Sechser, die am häufigsten prothetisch ersetzt werden müssen – sei es durch eine Zahnbrücke oder durch ein Implantat. Die Weisheitszahntransplantation stellt hier eine wunderbare Möglichkeit dar, ohne Beschleifen der Nachbarzähne oder einer invasiven Bearbeitung des Kieferknochens auszukommen. Sie bleibt leider häufig mangels Zahnangebot ungenutzt. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Menschen gibt, die über eine Reserve im oberen Kieferknochen verfügen und sich nicht von ihrem Kieferorthopäden zu dieser überflüssigen Entfernung überreden lassen.
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