Glitzernde Wogen, so weit das Auge reicht. Frau B. genießt und staunt – bis sie plötzlich vor Schmerz laut aufschreit. Wie ein idyllisches Bad im Ozean sekundenschnell zum Albtraum werden kann, lest ihr hier.
Mexiko, Mahahual an der Costa Maya. Eines Meeresschildkröte zieht in majestätischer Schwerelosigkeit ihre Bahnen durch das türkisblaue Wasser. Auf dem Meeresgrund glitzern Korallen in allen Farben des Regenbogens. Frau B. springt ins Wasser, nach ein paar Schwimmzügen betrachtet sie sprachlos vor Staunen das farbenfrohe Spektakel unter sich.
So eine Welt hat sie noch nie gesehen. Was sie nicht sieht, sind die Schatten. Es sind einige, manche davon weit entfernt – doch einer nähert sich langsam. Manchmal scheint er zu verfließen und zu verschwimmen, aber er ist da. Still und präsent.
Frau B. schwimmt weiter, umrundet ein Riff mit tausenden und abertausenden von Fischen – und verspürt plötzlich ein brennendes Stechen am rechten Bein. Sie schreit vor Schmerz. Aus dem Augenwinkel sieht sie unter sich einen großen, sehr langen Schatten treiben, den kurz darauf die Dunkelheit verschluckt.
Zurück an Land. Das gesamte Bein von Frau B. brennt wie Feuer. Sie bemerkt rötliche Striemen, die wie Peitschenhiebe aussehen. In der örtlichen Apotheke empfiehlt man ihr eine Salbe mit Antihistaminikum, die sie aufträgt. Innerhalb weniger Stunden schwillt jedoch das ganze Bein an. Die Striemen werden dunkler und schmerzhafter – und beginnen große Blasen auszubilden. 'Was passiert mit mir?‘, denkt sie sich.
Sechs Tage nach dem Ereignis sitzt Frau B. in unserer tropenmedizinischen Sprechstunde. Die Blasenbildung ist spektakulär, das Bein schmerzt sehr.
Wir nehmen Blut ab. Die Entzündungswerte sind normwertig, aber sie hat einen ausgeprägten Eiweißmangel. Thrombozyten und LDH sind leicht erhöht. Die Striemen und Blasen sind sicher durch Einwirkung von außen entstanden, aber die Schwellung des kompletten Beines gefällt mir nicht. In der Kompressions-Dopplersonographie kann ich eine Thrombose ausschließen.Zwischenergebnis: toxische Dermatitis mit Blasenbildung – aber warum?
Wir unterhalten uns noch einmal genau über die Umstände. Die Patientin berichtet, dass zwei Tage vor dem Schwimmen ein Sturm über dem tropischen Riff getobt hat. Eine Freundin berichtete von abgerissenen Feuerkorallen, die im Wasser schwammen. Eine Nesselgiftverletzung scheint festzustehen. Feuerkorallen halte ich allerdings für unwahrscheinlich, die strangförmigen Verletzungen lassen in erster Linie an eine Qualle denken. Frau B. erhält 100 Milligramm Prednisolon i.v. und ich empfehle 50 mg für fünf weitere Tage. Die topische Therapie hat sie bereits selbst fortgesetzt.
Vier Tage später sehe ich die Patientin erneut. Die Rötung blasst langsam etwas ab, ein Teil der Blasen hat sich resorbiert oder entleert. Weitere sieben Tage später sind die Blasen verschwunden, die streifenförmigen Rötungen jedoch noch deutlich erkennbar.
Insgesamt 1 Monat nach Vorstellung sind die Schmerzen verschwunden und die Haut hat sich erholt.
Nesseltiere sind vielzellige Lebewesen, die Nesselzellen besitzen. Diese dienen sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung – bei Aktivierung wird aus jeder Zellkapsel eine Art Mikroharpune geschleudert, die die Haut des Opfers durchdringt und das Gift injiziert.
Es gibt mehrere Untergruppen, zu denen z. B. die Schirm- und Würfelqualle gehören. Neben vielen harmlosen Vertretern gibt es auch ein paar Todesengel: Bekannt und gefürchtet ist die Seewespe, die mit ihrem Gift innerhalb von wenigen Minuten töten kann. Kommt der Mensch in Kontakt mit Nesseltieren, führt das zunächst zu einer Lokalreaktion mit Rötung, Schmerzen und Ödembildung. In schweren Fällen kommt es an der Haut zu Blasenbildung sowie zu systemischen Reaktionen, die bis zu Atem- und Kreislaufversagen reichen können.
Bei Sichtung von Quallen gilt: sofort raus aus dem Wasser. Wurde man dennoch erwischt, ist die wichtigste Regel: kein Süßwasser. In der Regel hängen unentladene Nesselgiftzellen auf der Haut, die bei Kontakt mit Süßwasser durch osmotische Effekte alle gleichzeitig noch entladen werden – die Folge ist ein fieser "second hit". Verbleibende Tentakeln lassen sich beispielsweise mit Salzwasser entfernen, in Australien wird vielfach Essig angewandt, um die Nesselzellen zu deaktivieren.
Zur Schmerztherapie eignen sich NSAR. Ob darüber hinaus eher Kälte oder Wärme hilft, ist umstritten. Therapiert wird topisch mit Antihistaminika und Steroiden, in schweren Fällen wie diesem auch kurzzeitig systemisch.
Tropische Riffe sind einzigartige Wunder der Natur mit ihren eigenen Gesetzen. Der Mensch ist hier nur zu Gast – und sollte die Risiken kennen. Gerade den geheimnisvollen und bizarren Quallen sollte man mit großem Respekt, vor allem aber ausreichend Abstand begegnen.
Bildquelle: Alex Rose, Unsplash