Hin und wieder wandern meine Gedanken zurück zu Rettungseinsätzen während der Pandemie. Erinnerungen an Menschen, die wir retten wollten – und ein System, das längst am Limit war.
München Nord, Mitternacht, Ende November 2021. In meinem Kopf fühlen sich diese Nächte noch immer an wie ein einziger, endloser Einsatz. Die letzte Covid-Welle hatte das Land fest im Griff. Sie war längst über die Ufer geschwappt, über Straßen, Häuser und Herzen hinweg. Die Stadt schien den Atem anzuhalten, die Straßen waren leer. Nur unsere Sirenen heulten durch die Nacht. Das sind Erinnerungen an eine Realität, die viele nicht wahrhaben wollten.
Ich erinnere mich an einen der Einsätze dieser Nacht. Ein kühler Hausflur, Neonlicht flackerte auf pastellblau gemusterte Wände. Mein Schutzkittel aus durchsichtigem Viskoseschrott klebte an meiner Haut. Das Poloshirt darunter wärmte nicht, aber für mehr Kleidung war unter dem Kittel kein Platz. Dann kam ich im dritten Stock an. Die Luft in der Wohnung roch, als hätten die Fenster seit Wochen kein Lüftchen mehr hineingelassen. Ich wollte nicht atmen und hielt zunächst die Luft an. Jeder Atemzug schien ein Risiko, eine Einladung für das Virus, das nicht nur mich, sondern auch meine Familie bedrohte.
Da war Billow, blass wie Kreide, mit einer Nickelbrille, die viel zu groß für sein schmales Gesicht schien. Er war jung, kaum älter als dreißig, trug ein ausgewaschenes T-Shirt mit dem verblassten Logo eines Gaming-Streams, als wäre er eben von der Couch aufgestanden. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, gerötet von Nächten ohne Schlaf, von Fieber und Atemnot. Seine Bewegungen glichen denen einer fallenden Schneeflocke, so als müsste er über jede Geste nachdenken, bevor er sie wagte.
„Ich habe es seit einer Woche“, keuchte er. „Ich fühle mich, als würde ich ertrinken.“ Die Worte kamen stoßweise, gehetzt, als fürchte er, sie nicht mehr alle herauszubekommen. 79 % Sauerstoffsättigung – zu wenig zum Leben und zu viel zu sterben. Seine Hände zitterten. Er versuchte, die Fassung zu wahren, doch in seinen Augen sah ich nur Panik.
Wir brachten ihn in den Rettungswagen. Mit kalten Händen hielt er sich an der Trage fest, als könnte er sich dadurch vor dem Abgrund retten. Und dann begann das Klinkenputzen: Krankenhaus um Krankenhaus, IVENA (Interdispziplinärer Versorgungsnachweis) auf dunkelrot. Eine Sauerstoffflasche lang hieß es nur „voll“, „abgemeldet“ und „kein Bett mehr frei.“ Billow rang nach Luft, wir nach einem Ort, der ihn aufnehmen würde. Zwei endlose Stunden in dieser Stadt, die so viele Kliniken hat – aber keinen Platz für ihn. Dann endlich sagte uns ein Krankenhaus zu. „Ich dachte, Corona wäre ein Scherz“, sagte er noch und sog den Sauerstoff in seine Lungen. Als ich den Untersuchungsraum verließ, verhallten Billows Worte im Getümmel einer Reanimation im Nebenraum und stürzten eine meiner synaptischen Gedankenklippen hinunter. Der Alarmempfänger ging erneut und befahl uns zum nächsten Notfalleinsatz.
Da war die junge Frau namens Lena, Mitte zwanzig, mit verstrubbeltem, dunklem Haar und einer zerrissenen Jeans, deren Nähte von vielen Wäschen ausgefranst waren. Ein Tattoo blitzte an ihrem Handgelenk hervor – ein winziger Anker, als Zeichen für Hoffnung oder Halt, den sie nun so dringend brauchte. Ihre Wangen waren tränenverschmiert. Der Schmerz hatte die Frau entwaffnet, ihre Stimme klang brüchig, jedes Wort ein Seufzer. Der Schmerzzustand ließ sich nur mit einer ordentlichen Ladung Fentanyl in den Griff bekommen. Und auch sie wollte kein Krankenhaus aufnehmen. Alles rot – kein Personal mehr, keine Motivation mehr, keine Geduld mehr. Ein Krankenhaus sagte uns zu und schließlich standen vor dem blassgelben Gebäude in München Schwabing. Ein Koloss aus der Vergangenheit, dessen marode Fassaden wie Mahnmale einer bröckelnden Gesundheitsversorgung wirkten.
Jemand kam aus der Schiebetür der Nothilfe: „Das dauert leider noch, bis das Zimmer frei wird. Ihr müsst warten.“ „Wie lange?“ „Mindestens eine halbe Stunde.“ Die mit Medikamenten vollgepumpte Patientin hatte es sich dank dem Fentanyl auf einer Parkbank halbwegs schmerzfrei gemütlich gemacht, als wäre das jetzt ihr Wartezimmer. Ihr Blick war ins Leere gerichtet, der Schmerz hatte ihn ausgehöhlt. Ich stand daneben wie bestellt und nicht abgeholt, den Blick in die Nacht gerichtet. Tröpfchenweise blubberte die Infusion in ihre Vene, der Wegweiser, den ich zum Infusionsständer umfunktioniert hatte, schwankte im Wind.
Bildquelle: Rettungsdienst Realtalk
Unkonventionelle Lösungen für unkonventionelle Situationen – das war längst Standard im Rettungsdienst geworden. Irgendwann, als ich mich innerlich schon auf ein neues Zielkrankenhaus eingestellt hatte, kam eine Schwester und verkündete, dass ein Raum frei geworden war. Drinnen, im gedimmten Licht, übergab ich die Frau an den Internisten. Sein Blick war ebenfalls leer. Er erinnerte mich entfernt an eine Schaufensterpuppe. Ich hoffte nur, dass die arme Frau nicht mehr lange warten musste.
Und so sah er aus, unser Alltag: Rettungsdienst und Kliniklandschaft in einem Land, das sich seiner Hochentwicklung so sicher war und in dem es irgendwann nur noch um Zahlen, um Kohle und um Effizienz ging. Was sich liest wie ein düsterer Ausschnitt aus einem dystopischen Roman, war bittere Realität. Es gab kein Personal mehr, das sich nur beklatschen und für ein paar Kröten verheizen lassen wollte. So auch in diesem Haus der Maximalversorgung. Ich erinnere mich an den Pfleger, den ich drei Stunden zuvor getroffen hatte. Er hatte geweint.
In diesen ganzen Nächten wurde uns mehr aufgebürdet, als wir je geahnt hätten. Der neu geschaffene § 5a des Infektionsschutzgesetzes übertrug einigen Berufsgruppen im Gesundheitswesen Verantwortung, die sonst Ärztinnen und Ärzten vorbehalten war. Die eigenverantwortliche Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten ohne Involvierung eines Arztes war plötzlich kein Problem mehr – ein Akt der Not, ein Vertrauensvorschuss aus der Verzweiflung heraus geboren. Wir mussten es tun, weil es niemand anderen mehr gab.
Der Rettungsdienst damals war ein Kampf an zu vielen Fronten gegen das Virus, die Müdigkeit und die Verzweiflung. Die Maske sog sich an meine Lippen, raubte mir den letzten Atem beim Stufensteigen. Im Winter war die Kälte unser ständiger Begleiter – im Sommer der Schweiß unter dem luftundurchlässigen Kittel. Aber wir hielten durch, weil wir uns diese Frage selbst beantworten konnten: Wenn wir aufgeben, wer bleibt übrig?
Damals schien es kaum vorstellbar, dass es enden würde. Die Ungeimpften, die Leugner, die Querdenker – sie wüteten lautstark gegen Vernunft und Solidarität. Wir im Rettungsdienst sahen an der Front derweil die nackte Wahrheit, die ein Querdenker nie zu Gesicht bekam: Lungen, die vollliefen und Körper, die einfach aufhörten zu leben. Aber die Querdenker schrien weiter, ohne Maske und ohne Respekt. Ich hatte versucht, zu diskutieren, Argumente zu bringen, Brücken zu bauen. Vergeblich. Sie machten aus Meinungen Fakten und zitierten Statistiken dunkler Ecken des Internets.
Während wir Leben retteten, strickten sie in verdunkelten Zimmern an ihren Verschwörungen. Sie redeten von Freiheit und verkannten, dass Freiheit Verantwortung braucht. Sie vergaßen, was es heißt, in einem Land zu leben, in dem man seine Meinung frei äußern darf, ganz ohne Repressalien oder gar Mord und Folter durch den Staat ausgesetzt zu sein. Und sie missbrauchten dieses Recht, als wäre es ein Schild gegen jede Vernunft und gefährdeten mit dem Verweigern der Masken andere.
Dankbarkeit, Hoffnung und die Mahnung der Sirenen
Ich blicke zurück mit Dankbarkeit: für die Wissenschaft, für die Vernunft der Vielen, die den Kurs hielten, für die Teams, die Schulter an Schulter kämpften. Für den Teil der Gesellschaft, der gelernt hat, dass Freiheit Verantwortung bedeutet. Und ich blicke mit der Hoffnung nach vorn, dass wir diese Lektion nicht vergessen. Dass wir nur stark sind, wenn wir zusammenhalten und Krisen überstehen, wenn wir einander nicht loslassen.
Mittlerweile sind Jahre vergangen. Corona ist nicht mehr das Monster jener Nächte, sondern wurde gezähmt durch die Geduld und das unbeirrbare Durchhalten vieler. Die Sirenen in der Nacht sind seltener geworden, doch jedes ferne Heulen zerreißt noch immer die Stille und weckt die Schatten von Billow, Lena und von all jenen, die wir nicht retten konnten. Doch es erhält auch die leuchtenden Erinnerungen an die, die wir dem Abgrund entrissen. Aufgeben war niemals eine Option.
Bildquelle: Midjourney