Bei vielen Krankheiten ist ein frühes Eingreifen sinnvoll – nicht aber beim Hallux valgus. Wann eure Patienten unters Messer gehören und wann ihr lieber die Finger vom Zeh lassen solltet.
Als Kind wunderte sich A. über die komischen Füße anderer Mädchen: Bei denen standen die großen Zehen gerade nach vorne, wie lustig! Bei ihr, ihrer Mutter und Großmutter dagegen bogen sich die Zehen ja schief nach außen. Später lernte sie, dass die Frauen ihrer Familie einen Hallux valgus, oder Ballenzeh, haben. Als A. 50 war, riet ihr ein Orthopäde zur Operation. Sein Argument: Die Kniebeschwerden, deretwegen A. zu ihm gekommen war, könnten auf ihren Hallux valgus zurückgehen, auch wenn der selbst keine Probleme machte. Eine frühe OP würde auch die anderenfalls ganz bestimmt auf sie zukommenden Beschwerden abwenden.
A. ließ sich operieren – mit dem Ergebnis, dass sie bis heute, 10 Jahre nach der OP, Schmerzen im operierten Fuß hat, nicht barfuß gehen kann, Einlagen braucht und die Wade auf dieser Seite immer noch schmächtiger ist. Der andere Fuß, obwohl mit eingedrehter Zehe und ausladendem Ballen, macht ihr nach wie vor weit weniger Probleme als der operierte Fuß.
Hätte der Orthopäde damals schon die soeben aktualisierten S2e-Leitlinie „Hallux valgus“ zur Verfügung gehabt, hätte er A. vermutlich nicht zur OP geraten. Denn die Leitlinie – erstellt unter der Federführung der Deutschen Assoziation für Fuß und Sprunggelenk der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie – nennt folgende Indikationskritierien für eine Operation: vergebliche konservative Therapie, Schmerzen und Leidensdruck, Minderung der Lebensqualität, Funktionseinschränkung, Probleme beim Tragen von Schuhen und wiederkehrende Geschwüre am Ballen.
Auch die in der Leitlinie formulierten Ziele der Behandlung passen nicht zur Idee, vorbeugend zu operieren: Primäres Ziel ist die Schmerzlinderung, sekundäre Ziele sind die Korrektur der Fehlstellung und eine Verbesserung der Funktion. Im Fall von A. wurde zwar die Fehlstellung korrigiert, aber bei den anderen beiden Zielen war die OP kontraproduktiv, da sie die Situation verschlimmerte. Die Leitlinie rät auch dazu, die Beschwerden zunächst drei Monate konservativ mit Medikamenten, physikalischer Therapie, Hallux-valgus-Schienen und Taping zu behandeln. Korrigieren lässt sich die Deformation mit diesen Maßnahmen allerdings nicht.
Die Zehen wieder gerade biegen kann nur die OP. Was die Operationstechniken angeht, ist die Lage recht unübersichtlich. Um die über 100 verschiedenen Vorgehensweisen bewerten zu können, analysierten die Autoren in einem parallel publizierten Review 46 Primärstudien. Grundsätzlich unterscheiden sie zwischen gelenkerhaltenden und gelenkopfernden Maßnahmen. Obwohl die Autoren zu dem Schluss kommen, dass „eine klare Überlegenheit einzelner Operationstechniken aktuell nicht gezeigt werden kann“, geben sie in einem Schaubild mit 6 verschiedenen OP-Techniken zumindest eine ungefähre Orientierung: Für leichte und moderate Schweregrade empfehlen sie primär gelenkerhaltende OPs, für schwere Fälle primär eine gelenkopfernde OP.
Algorithmus zur operativen Therapie des symptomatischen Hallux valgus.Grau hinterlegte Rechtecke: Schweregradeinteilung; Grau-schrafierte, abgerundeteRechtecke: Modulatoren; Durchgezogener Pfeil: Primäre Empfehlung derLeitlinienkommission; Gestrichelter Pfeil: Sekundäre Empfehlung der Leitlinienkommissionbei weiteren rechtfertigenden Faktoren. Credit: DGOU Leitlinie 187-051 – Hallux Valgus
Abweichend von bisherigen Klassifikationen fassen sie leichte und moderate Schweregrade zusammen, da eine Unterscheidung ihrer Ansicht nach für die Therapiewahl keine Rolle spielt. Unter leicht und moderat verstehen sie Deformationen mit einem Hallux valgus-Winkel unter 40 Grad und einem Winkel vom ersten zum zweiten Mittelfußknochen unter 18 Grad. Liegen die Winkel über 40 beziehungsweise 18 Grad, gilt ein Fall als schwer.
Ihren OP-Algorithmus wollen sie unter Vorbehalt verstanden wissen, weil andere Faktoren, die für das Gesamtbild relevant sein können, wie etwa die Drehung des großen Zehs, dabei nicht berücksichtigt sind.
Wegen anhaltender Beschwerden im operierten Fuß scheut A. die Operation im anderen Fuß. Dabei sind Orthopäden bei dessen Anblick jedes Mal entzückt, so lehrbuchmäßig ist das Erscheinungsbild ihres Hallux valgus.
Die Leitlinie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Faruk Tokluoğlu, Unsplash