Wer in der Rettungsleitstelle fürs Telefon zuständig ist, muss mehr als nur Anrufe entgegennehmen. Als Calltaker befand ich mich über drei Jahre am Hörer zwischen Leben und Tod – und stellte mir die Frage, ob Worte allein retten können.
Die Rettungsleitstelle ist ein Brennpunkt menschlicher Ausnahmesituationen. Um die Jahrtausendwende verbrachte ich dort drei Jahre lang Zeit als nebenberuflicher Notrufsachbearbeiter, im Jargon Calltaker genannt. Anders als vielleicht erwartet, ist die Leitstelle kein Schauplatz von Actionfilmen – sondern ein stiller Raum, dominiert vom Summen der Technik und dem Flüstern einer Klimaanlage. Sie ist ein abgeschirmter Platz für die rohen, ungefilterten Schreie nach Hilfe. An diesem Ort wurde ich zu einem Übersetzer des Entsetzens.
Ich halte es mittlerweile für schwierig, einen derartigen Job nur als Nebenberuf auszuüben, denn hierfür ist wie auch im mobilen Rettungsdienst ein gewisses Maß an Routine notwendig. Die Arbeit war schließlich ein ständiges Hochseilballett über dem Abgrund der Panik eines Anrufers, dessen Worte wie Glassplitter auf dich einprasseln. Du fängst diese Splitter auf, sortierst und presst sie in die Logik einer Eingabemaske am Computer. Du stellst die richtigen Fragen, die erst dann wie chirurgische Instrumente präzise in das Chaos schneiden.
Deine Finger fliegen über die Tastatur, dein Ohr klebt am Hörer, und du erfasst die Essenz des Notfalls: Wer ist verletzt? Wer ringt nach Luft? Sind die Brustschmerzen lebensbedrohlich? Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, bei dem man Mitgefühl zeigen und trotzdem effizient arbeiten muss. Die Nervosität des Anrufers ist dabei wie ein Störsender, der die lebenswichtige Verbindung zu kappen droht. Man muss die Emotionen eines Anrufers herausfiltern, um alle notwendigen Informationen zu erhalten und Hilfe schicken zu können.
Meine Eintrittskarte in diese Welt war meine rettungsdienstliche Ausbildung. Erst diese hat es mir ermöglicht, die feinen Nuancen zwischen einer harmlosen Blessur und einer tickenden Zeitbombe zu erkennen. Wie hätte ich sonst entscheiden können, ob ein Rettungswagen reicht oder eher der Helikopter landen muss? Doch Theorie und Praxis klaffen oft auseinander wie Wundränder. Ein Notruf hat sich wie ein Brandmal in mein Gedächtnis eingebrannt. Die Stimme von Herrn Voss, von Panik am Telefon nach einem schweren Verkehrsunfall zerrissen. Im Hintergrund nur ein kakophonisches Rauschen, das Knirschen von Metall und darunter, fast verschluckt, die Schreie von Menschen. Ein akustisches Gemälde des Grauens, das mir bis heute immer noch wie eine Rasierklinge den Rücken entlangschneidet.
„Die Rettungsleitstelle, Strzoda.“„Mein Name ist Voss. Schnell – wir brauchen Hilfe. Ein Unfall.“„Wo genau befinden Sie sich, Herr Voss?“„Ich weiß nicht – Landstraße ... von Roth ... nach Burgen.“
Diese Bundesstraße bin ich selbst schon oft gefahren. Sie ist ein langer Bereich auf der Landkarte, in welchem die Realität für Herrn Voss in diesem Moment zerbrach. Da ist es schwer, diese Situation des Grauens nicht auf das eigene Leben zu übertragen: In einem kurzen Augenblick verwandelt sich deine alltägliche Fahrt in einen Albtraum. Der Mensch neben dir, dein Lebensanker, liegt da und bewegt sich nicht mehr, umgeben von einer Szenerie, die du sonst nur von der Leinwand kennst. Das gemeinsame Leben droht als fragiles Konstrukt zu zerschellen. Rationalität wird zum Luxusgut, bevor sie sich in Luft auflöst.
Während meine Finger die Daten in die Maske des MS-DOS-basierten Programms ARLIS® hämmern und ich versuche, Herrn Voss mit Fragen auf dem schmalen Grat der Verständigung zu halten, male ich mir das Bild aus: ein Frontalzusammenstoß, gefolgt von der brutalen Choreographie ineinander fahrender Autos. Mir gegenüber setzt der Disponent an Tisch eins bereits die Kavallerie in Bewegung. Rettungswagen, Notärzte, Hubschrauber – eine Armada der Hoffnung, ausgesandt in eine Schlacht, deren Ausgang ungewiss ist. Im Hintergrund höre ich unzählige Alarmierungsschleifen ablaufen. Ich frage Herrn Voss: „Welche Ausfahrt war die letzte, an der Sie vorbeigefahren sind?“ „Ich weiß es nicht. Ich glaube, es war die Ausfahrt Fuchsing.“
„Ihre Handynummer, Herr Voss.“ Ein letzter Versuch, die Verbindung zu sichern. Er stammelt sie heraus. „Meine Frau blutet stark. Hals … bewegt sich nicht!“ Die Stimme überschlägt sich, wird zum dünnen Faden, der zu reißen droht.„Hilfe ist unterwegs. Drücken Sie die Blutung ab!“ Ich ahne, dass das ein Befehl ins Leere ist. Der Mann kapituliert vor dem Unfassbaren. „Ich weiß nicht, wie.“ Mein Innerstes als Rettungsassistent schreit auf: Eine arterielle Halsverletzung ist ein Wettlauf gegen den Sekundenzeiger, der immer weiter vorrückt. Zehn Minuten Anfahrtszeit sind einfach zu lang. Jetzt abdrücken!„Ein Handtuch, ein T-Shirt, irgendetwas!“„Elke ... Elke! Sie bewegt sich nicht. Schnell ... bitte ...“ Seine Stimme zerbricht.„Ist sie ansprechbar?“
Dann war da nur noch das Rauschen der Leitung, über die Herr Voss eben noch um Hilfe gefleht hatte. Die erste Lagemeldung des Rettungswagens war ein Protokoll der Verwüstung: drei Tote, ein Schwerverletzter. Herr Voss blieb ein Überlebender in seiner eigenen Tragödie.
Doch die Leitstelle war nicht nur ein Resonanzraum für Katastrophenszenarien. Sie bot auch Kuriositäten menschlicher Verirrungen, deren Drama des Alltags sich oft in absurder Komik entlud. Zwischen den Funksprüchen und Todesschreien gab es Inseln der Banalität, die fast surreal wirkten.
Ich: „Die Rettungsleitstelle, grüß Gott.“ Rauschen. „Hallo?“Oma: „Hier ist O-o-o-ma! Die Oma ist hier ...“ Eine Stimme wie aus einer anderen Zeit.Ich: „Und hier ist der Rettungsdienstnotruf.“Oma: „Wie?“Ich: „Rettungsleitstelle. Notarzt, Rettungsdienst.“Oma: „Aha. Ich möchte die Paula sprechen.“Ich: „Sie sind aber in der Rettungsleitstelle.“Oma: „Ach so.“Ich: „Sie können einen Rettungswagen haben, aber keine Paula.“Oma: „Seid ihr nicht zu Hause?“Ich: „Noch einmal: Sie sind in der Rettungs-leit-stelle.“Oma: „Ich wollt bloß sagen, dass ich morgen einen Schweinsbraten mache.“Ich: „Alles klar. Dann machen Sie für mich bitte einen mit.“
Die alte Dame hatte aufgelegt, und ich musste inmitten der ganzen Anspannung lachen. Die Kurzwahltasten älterer Telefone waren manchmal ein direkter Draht ins Nirgendwo oder eben zum Rettungsdienst-Notruf.
Oder der Anrufer, der mit fester Stimme verkündete: „Hallo, die Antwort ist: Kenan, der Abenteurer.“ Mein Gehirn versuchte, den Abenteurer in ein Raster zu bekommen.„Äh, bitte – was ist los?“„Oh... da bin ich wohl verkehrt.“„Scheint so.“„Entschuldigung ... da muss ich mich wohl verwählt haben. Auf Wiederhören.“
Ein Zahlendreher, der statt zum Radiosender ins Epizentrum der Notfälle führte. Ein verpasstes Quiz bot einen kurzen Moment der Heiterkeit. Dann gab es die ältere Anruferin, die nur wissen wollte, ob „heute der 23. oder der 24.“ sei. Meine Bestätigung des 23. quittierte sie mit einem „Gott sei Dank!“, atmete auf und legte den Hörer in die Gabel.
Und dann war da noch Sarah. Ein Anruf, der die Mauer zwischen meiner professionellen Distanz und menschlicher Betroffenheit endgültig einriss. Eine Frau, deren Stimme jung und müde klang – und voller Tod. Sie wollte sich aus diesem Leben löschen. Depression und Trennungsschmerz. Ein Klischee wie in schlechten Filmen, dachte ich. Ich sah mich schon in der Rolle des eloquenten Retters am Telefon, der die Katastrophe mit psychologischem Geschick abwendet. Wie vermutlich jeder von uns spiele ich solche Szenarien vorher schon immer mal in meinem Kopf durch.
Ich wähnte mich vorbereitet und nahezu unbesiegbar, Worte wie Rettungsleinen auszuwerfen. Jedoch unterlag ich meiner trügerischen Sicherheit, denn die Realität war eine andere. Sarah meinte es ernst. Ihre Stimme war ein Statement des Abschieds. Sie stand auf dem Dach eines Hochhauses an einem mir unbekannten Standort. Ihr Handy unterdrückte zudem auch die Rufnummer, und ohne ein Programm wie den Smart Locator® und ohne Zwangsfreischaltung der Rufnummer hatten wir es damals mit einer technischen Hürde zu tun, die uns so gut wie blind machte. Die Polizei war längst an der Handyortung dran, aber das war ein Prozess, der im Jahr 2000 wie zähflüssiger Honig ablief.
„Wie heißt du?“„Sarah.“„Ich heiße Christian. Darf ich Du sagen?“„Ja.“„Wie alt bist du?“ Ich will Zeit gewinnen und versuche, ein fragiles Gesprächsgerüst zu zimmern.„23. Seit letzter Woche.“ Ein Geburtstag, vermutlich ohne Feier. Ein Detail, das schmerzt. Offene Fragen, nicht geschlossene, hatte ich gelernt.„Erzähl mir von deinem Freund.“„Er will mich nicht mehr.“ Kurz, abgehackt.„Hat er auch gesagt, weshalb?“ Verdammt, wieder eine geschlossene Frage.„Nein. Ich springe jetzt.“ Der Satz fällt wie ein Fallbeil.
In diesem Moment fragte ich mich, ob Sarah den Wert ihres eigenen Lebens nicht kennt, aber ich schiebe den Gedanken unmittelbar als unprofessionell und wütend beiseite. „Nein, stopp. Warte! Ich habe noch eine Frage ...“ Ich fragte mich, was sie von mir erwartete. Absolution? Eine Lösung am Telefon? Ich hatte nichts davon anzubieten.
Endlich die Ortung, ungenau, aber eingrenzbar. Zwei mögliche Hochhäuser. Der Disponent schickt zu beiden jeweils einen Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug. Ein Wettlauf gegen eine Entscheidung, die vielleicht schon gefallen ist.
„Was erwartest du von mir, Sarah?“„Keine Ahnung. Ich will, dass alles so ist wie vorher.“„Das geht leider nicht. Aber du hast eine Chance, dass es besser wird.“„Hm.“„Was ist mit den guten Zeiten?“„Mir ist kalt. Hier oben ist es windig.“„Wo bist du? Ich schicke dir Hilfe.“„Ich stehe auf dem Metro in Markbrück.“ Treffer. Ein Funken Hoffnung. Der Disponent signalisiert mir, dass einer der RTW am richtigen Hochhaus eingetroffen ist.„Sarah, da unten steht ein Rettungswagen mit Sanitätern. Kannst du sie sehen?“„Ja.“„Wenn du willst, kommen sie zu dir hinauf und bringen dir eine Decke. Möchtest du das?“
Keine Antwort. Nur schweres Atmen im Hörer, wie das Pumpen einer erschöpften Maschine. Dann ein Geräusch: Ein dumpfer Schlag. Das Handy scheint auf den Beton des Hochhaus-Daches gefallen zu sein. Ich höre schneller werdender Schritte und das Pfeifen des Windes, das lauter wird. Sie schreit nicht.
Fassungslos lausche ich dem Rauschen, bevor ich auflege. Das Drama entfaltet sich nun weiter über Funk. Sarah fällt genau vor die Füße der RTW-Besatzung und ist sofort tot. Die Kollegen konnten danach nicht mehr weiterfahren und wurden abgelöst – Sarahs Anblick hatte sich ihnen in die Seele gebrannt.
Habe ich versagt? Etwas falsch gemacht? Ich denke nicht. Ich war einfach zu spät. Sarahs Entschluss stand vermutlich fest, bevor sie die Nummer wählte. Vielleicht brauchte sie nur einen anonymen Zeugen mit einer Stimme am anderen Ende, um den letzten Schritt tun zu können. Das ist nur meine eigene Theorie, mehr nicht. Aber dieser Sturz ins Nichts war ein Wendepunkt für mich.
Ich zweifelte plötzlich daran, nur mit Worten Leben retten zu können, und fragte mich: Kann ich am Ende einer Leitung etwas bewirken, das so schwer greifbar ist wie Hoffnung? Kann ich durch virtuelle Nähe physische Präsenz ersetzen? Bildschirm und Hörer sind zwar Filter, aber auch Barrieren. Sie schützten mich vor dem direkten Anblick des Schreckens, aber sie raubten mir auch die Möglichkeit der Intervention, der Geste, der Berührung, die manchmal mehr sagt als tausend Worte. Für mich persönlich ist die Rettung im direkten Kontakt zum Menschen viel leichter.
Drei Jahre nach meinem Einstieg entschied ich mich schließlich gegen die Dunkelheit hinter dem Telefonhörer, zog komplett zurück an die Frontlinie des Rettungsdienstes, wo das Leben in greifbarer Nähe pulsiert und die Entscheidungen klarer sind – selbst, wenn sie bitter schmecken. Was mir bleibt, sind die vielen Stimmen als Bruchstücke verschiedener Leben, die nie ganz verstummen. Sie wohnen in mir, zwischen den Atemzügen, wenn es still ist. Manchmal höre ich sie noch. Nicht laut, aber deutlich genug, um zu wissen, dass ich damals nicht einfach nur Anrufe entgegennahm. Ich hielt für Sekunden das Gewicht eines ganzen Universums in der Hand.
Bildquelle: Rogério Toledo, Unsplash