Damit hatte niemand gerechnet: Herr Müller ist plötzlich tot. Dabei hattest du doch alles richtig gemacht – oder? Wenn die Gedanken Nacht für Nacht kreisen und immer dunkler werden, hat es vielleicht auch dich erwischt: das Second-Victim-Phänomen.
Wo behandelt wird, passieren Fehler. Bei der Menge an Patientenkontakten und komplexen Fragestellungen, die uns Ärzte tagtäglich (und nächtlich) ereilen, ist das nahezu unvermeidbar. Natürlich sind wir uns im Klaren darüber, dass solche Fehler mitunter gravierende Folgen für unsere Patienten haben können.
Das Second-Victim-Phänomen beschreibt die Tatsache, dass dabei häufig eben nicht nur die Behandelten und deren Angehörige geschädigt werden, sondern auch wir Ärzte selbst. In dramatischen Situationen – etwa nach Behandlungsfehlern oder bei unverschuldet gravierenden Krankheitsverläufen, zum Beispiel einem unerwarteten Versterben –, können wir durch unsere Belastung neben dem Patienten zum zweiten Opfer werden. Bislang ist das Second-Victim-Phänomen innerhalb der Ärzteschaft wenig bekannt. Dabei zeigen Studien, dass die in diesem Kontext auftretende psychische Belastung von Behandlern ein länderübergreifendes und flächendeckendes Phänomen darstellt.
So gaben beispielsweise bei einer Umfrage unter Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 59 % der Befragten an, von dem Phänomen selbst bereits betroffen (gewesen) zu sein. Generell kann das allen Angehörigen von Gesundheits- und Heilberufen widerfahren. Ein bedeutender Risikofaktor sei laut Prof. Reinhard Strametz, Facharzt für Anästhesiologie und Leiter des Wiesbaden Institute for Healthcare Economics and Patient Safety, das Einzelkämpfertum, beispielsweise bei alleine Niedergelassenen.
Einem Teil der Behandler gelingt es, solche Ereignisse gut aufzuarbeiten. Im besten Fall können daraus eine Zunahme der eigenen Kompetenz sowie eine verstärkte Wahrnehmung für Patientensicherheit resultieren. Dahingegen neigen bis zu zwei Drittel aller Betroffenen dazu, den Vorfall dysfunktional zu verarbeiten. Das kann sich in vorübergehenden Beschwerden äußern, wie dem Verlust an Glauben in eigene Fähigkeiten und daraus resultierenden Ängsten, Schlafstörungen, Schuldgefühlen und Isolation, Wiedererleben der Situation oder Substanzkonsum. Dies sei Strametz zufolge keine Erkrankung, sondern zunächst eine natürliche menschliche Reaktion auf ein außergewöhnliches Ereignis und Zeichen einer noch funktionsfähigen Empathie.
Als Ausdruck unzureichender Unterstützung und Resilienz sind individuell aber auch dauerhafte, schwerwiegende Folgen möglich, wie die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression, die Berufsaufgabe oder – im schlimmsten Fall – ein Suizid. Die systemischen Folgen betreffen ebenso die jeweilige Organisation, etwa durch kurzfristige Arbeitsausfälle bis hin zu Berufsausstiegen. Daher besteht auch für Institutionen ein (monetäres) Interesse an Unterstützung Betroffener und Prävention.
Um mehr Bewusstsein für diese Thematik zu schaffen, berief die Bezirksärztekammer Südbaden 2024 eine außerordentliche Vertreterversammlung ein. Neben einer nötigen Sensibilisierung der Ärzteschaft wurde hier als Fazit auch ein Programm zur kollegialen Beratung unter Ärzten empfohlen. Denn mitunter benötigen Second Victims Unterstützung, um das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die Berufszufriedenheit und Lebensqualität zurückzuerlangen. Mögliche Maßnahmen reichen vom oben erwähnten Peer Support durch verständnisvolle Kollegen mit ähnlichem Erfahrungshintergrund bis hin zu zeitnahen, professionellen Kriseninterventionen.
Als potenziell hilfreich für Betroffene haben sich zudem eine kurze Auszeit von der Tätigkeit, das Zulassen von Emotionen und Ängsten, Vermeidung von Mobbing oder Schuldzuweisungen im Team sowie grundsätzliche Bestätigung fachlicher Kompetenz mit Unterstützung und Rückversicherung im klinischen Arbeiten erwiesen. Auch sind routinehafte und wertschätzende Nachbesprechungen belastender Begebenheiten mit Fehleranalyse sehr sinnvoll, damit sich Situationen nicht wiederholen. Vor diesem Hintergrund sind Patienten- und Ärztesicherheit untrennbar miteinander verbunden.
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