Einsatzstichwort: Luftnot. Als mein Team und ich ankommen, werden wir von einem aggressiven Patienten empfangen – von Luftnot keine Spur. Er scheint unsere Hilfe gar nicht zu wollen. Dürfen wir den Einsatz abbrechen?
Im letzten Notarztdienst fuhren wir mit dem Einsatzstichwort Luftnot zu einem Patienten. Wir betraten eine unordentliche, dreckige Wohnung, in der schon zu lange nicht mehr aufgeräumt, geputzt und – vor allem – gelüftet wurde.Aufräumen und putzen geht nicht mal eben, aber die Fenster hatte schon das vor uns eingetroffene RTW-Personal geöffnet.
Notiz am Rande: Ich trage übrigens nach wie vor eine FFP2-Maske und bin seitdem deutlich entspannter, wenn wir solche Wohnungen betreten. Zu oft heißt es nach einem solchen Einsatz „offene TBC –Kontaktpersonen informieren“ oder „Norovirus“ –muss ich alles nicht haben. Damit bin ich aber alleine. Die Kollegen des Rettungsdienstes verzichten allesamt auf einen Mundschutz und kommen daher häufiger in den Genuss verbrauchter Luft. Sollen sie machen, ich bleibe bei meiner Maske. Auch in dieser Wohnung war ich dankbar für meine Maske, aber nicht aus hygienischen, sondern eher aus olfaktorischen Gründen.
Der sichtlich schlecht gelaunte Patient brauchte eine Weile, um uns klarzumachen, was sein Problem ist. Mit Luftnot hatte das nichts zu tun.Er konnte ganze Sätze sprechen, regte sich über den in seinen Augen nichtsnutzigen Sohn und die faule Partnerin auf, die mit ihm in der Wohnung leben. Offensichtlich an diesem Einsatz war, dass dieser Mensch 1.000 Probleme hat – aber keins davon war akut, geschweige denn notfallmedizinischer Natur. Ich kenne diese Biografien nur zu gut. Wie so viele wird er keine behütete Kindheit gehabt haben und auch keine Eltern, die ihn in seiner Ausbildung und seinem Werdegang unterstützt haben. Er hat sein Leben nie so richtig in den Griff bekommen. Die Unzufriedenheit über seine Gesamtsituation kroch ihm aus jeder Pore.
Die geduldig anamnestizierende Notfallsanitäterin nervte ihn und auch das von ihr angebrachte Monitoring wurde noch vor dem ersten Messwert entfernt. Er pöbelte in einer Tour gegen alle, alles und jeden. Niemand helfe ihm, aber die Ausländer würden alles bekommen. Es müsse mal jemand richtig aufräumen und so weiter. Wir kennen das. Aber wir helfen jedem, unabhängig von politischer oder sexueller Gesinnung, unabhängig vom finanziellen oder sozialen Status. Für uns zählt nur das medizinische Problem und der beste Weg zur Hilfe.
Man kann die Situation, die wir beim Eintreffen vorfanden, durchaus als angespannt bezeichnen. Der Patient rief nach Hilfe, lehnte diese dann jedoch ab – eine geradezu regelmäßig eintretende Situation. Normalerweise denkt man, wer die 112 ruft, braucht Hilfe und ist dankbar, wenn die Hilfe da ist.In Lebenssituationen wie dieser ist aber nichts mehr normal. Da ist die 112 die letzte Reißleine, die gezogen wird, wenn alle anderen Systeme versagen.
Und gerade als ich noch vermitteln wollte, schlug der Ton um. Der Patient riss sich die Blutdruckmanschette vom Arm und schleuderte sie etwas zu schwungvoll in Richtung der Notfallsanitäterin. Wann immer möglich, versuchen wir deeskalierend auf die Patienten einzuwirken. Wir sprechen ruhig, versuchen nicht zu provozieren. Parallel prüfen wir, ob es medizinische Gründe für den Zustand der Patienten gibt. Unterzuckerung, Entzug (Alkohol!), stattgehabte Stürze mit Schädel-Hirn-Verletzungen und psychiatrische Erkrankungen gehören zu den häufigsten Ursachen.
Die meisten, pöbelnden Menschen sind nicht wirklich aggressiv oder böse, sondern meist einfach überfordert. Ein ehrliches Hilfsangebot kann hier Wunder bewirken. Nicht so bei unserem Patienten. Trotz ruhiger Ansprache wurde er immer wütender und unverschämter. Er ließ eine Tirade von Schimpfwörtern ab, die auf eine gewisse Übung im Umgang mit Fäkalbegriffen schließen ließ.
Vor einigen Jahren habe ich einen Kurs besucht, an dem auch Polizeikräfte teilnahmen. Vieles davon ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.Sicherheitsabstand halten, Glasflaschen oder anderes Wurf-/Waffenmaterial entfernen oder falls möglich, außer Reichweite bringen. Und ganz wichtig: Fluchtwege freihalten. Alles immer getrieben von dem Wunsch diesem Menschen in Not zu helfen. Es hilft aber niemandem, wenn die Retter selbst zu Opfern werden. Wir alle müssen diesen Job noch viele Jahre machen und wenn uns was passiert, können wir niemandem mehr helfen.
In diesem Einsatz kippte erstmals etwas. Ich bekam das Gefühl, dass dieser Mensch gar nicht unser Patient ist, sondern uns nur benutzt.Ich stelle mir das wie eine Waage vor: Auf der einen Seite ist das medizinische Problem und auf der anderen Seite die körperliche und psychische Integrität unseres Teams. Ich weiß nicht, wie ich das jemand Außenstehendem richtig erklären soll: Es gehört zu unserem Job, dass wir uns in gefährliche Situationen begeben, um anderen zu helfen. Das fängt mit der Anfahrt mit Sondersignal und dem deutlich erhöhten Unfallrisiko an und geht natürlich mit den Einsätzen selbst weiter. Wir achten immer auf Eigenschutz, aber Gefahren sind manchmal versteckt und letztlich oft ein immanenter Bestandteil von Bränden, Unfällen und anderen Einsatzstellen, an denen sich Menschen verletzt haben oder erkrankt sind. Das nehmen wir bewusst in Kauf, weil wir helfen wollen.
Hier aber wurde der Hilfesuchende nicht nur zur Gefahr für uns, sondern überschritt gleich mehrfach dermaßen deutlich die Grenze des Zumutbaren, dass ich mich zu einem Schritt genötigt sah, den ich bisher nicht gehen musste. Ich wies den Patienten darauf hin, dass er mein Team und mich gefährdete. Ich erklärte ihm, dass es zwischen uns auf dieser Basis kein Vertrauensverhältnis geben kann, daher die Behandlungspflicht entfällt und wir den Einsatz abbrechen müssen.
Wir gingen raus. Ich war kurz selbst unsicher, ob man das so machen darf.Ich dokumentierte den Einsatz ausführlich, vor allem den medizinischen Zustand und auch die übergriffigen Äußerungen. Noch am RTW besprachen wir uns und waren uns alle einig über das Vorgehen. Es ist mir immer wichtig, dass das Team meine Entscheidungen nachvollziehen kann. Am Ende entscheide ich und trage auch die Verantwortung, aber ich möchte nicht, dass Fragen offen bleiben und hinten herum Gerede entsteht. Vor allem möchte ich, dass alle unversehrt aus dem Einsatz gehen und das betrifft nicht nur die körperliche Unversehrtheit.
Aus dem Team kam erfreulicherweise viel Zuspruch und ausschließlich erbauliches Feedback. Insbesondere die zuerst eintreffende Kollegin war mir sehr dankbar für die klare Abgrenzung. Ich besprach den Fall zudem mit einem oberärztlichen Kollegen, der über einen ähnlichen Fall berichten konnte.Nicht alle Menschen wollen unsere Hilfe, auch das muss man akzeptieren. Am Ende bleibt es immer eine Einzelfallentscheidung und jeder Notarzt oder Notfallsanitäter muss für sich entscheiden, was der richtige Weg ist. Womit ich nicht sage, dass man jeden pöbelnden oder aggressiven Patienten sich selbst überlassen kann. Es benötigt eine sorgfältige Abwägung und natürlich sind hierbei auch einige Jahre klinischer Erfahrung von Vorteil. Eine Erfahrung, die ich zu Anfang meiner notärztlichen Tätigkeit nicht hatte. Ich habe mich auch gefragt, wie ich den Einsatz vor zehn Jahren gelöst hätte. Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.
Wahrscheinlich hätte ich den Patienten dazu überredet mitzukommen und dann wäre das passiert, was in jeder größeren Notaufnahme mehrmals pro Tag passiert. Er hätte dort genauso weiter gepöbelt und wäre einige Stunden später unverrichteter Dinge vor die Tür gesetzt worden. So ein Vorgehen verschwendet Ressourcen und hilft dem Patienten auch nicht. Es lässt einen als Notarzt zwar vermeintlich ruhig schlafen, ist aber nicht die Lösung.
Man sollte wissen, welche gesetzlichen Grundlagen es gibt.In einer akuten, medizinischen Notlage und bei unmittelbarer Lebensgefahr besteht eine uneingeschränkte Behandlungspflicht. Tatsächlich ist das Gesetz bei unterlassener Hilfeleistung sehr viel strenger, als bei falscher Behandlung.Aber: Eine akute Gefahr für Leib und Leben hebt die Pflicht zur Behandlung auf. Wir müssen uns nicht selbst gefährden.Besteht ein medizinischer Notfall UND der Patient gefährdet uns, sollte sich das Team in Sicherheit zurückziehen, die Polizei dazu rufen und weitere Optionen eruieren.Wenn aber keine akute Notfallindikation besteht und das Team gefährdet wird, darf man auch als Rettungsdienst eine Behandlung verweigern.Das muss in jedem Fall sehr gut und nachvollziehbar dokumentiert werden!
Medizinische Ursachen für psychische Ausnahmesituationen müssen vor Ort so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Wir müssen jedoch nicht jeden Patienten unter Zwang mit der Polizei durch ein Angio-CT schieben, um auf Nummer sicher zu gehen. Wichtig ist mir: Wir dürfen Grenzen setzen; wir müssen nicht alles über uns ergehen lassen. Wir sind kein emotionaler Boxsack und auch keine seelische Müllhalde. Und nein, wir stehen auch nicht mit einem Bein im Knast. Wir sind vor allem nicht das, wofür wir zu oft missbraucht werden: die Allzweckwaffe für ein Systemversagen. Wir sind notfallmedizinische Spezialisten und opfern in 24-Stunden-Schichten viel von unserer Freizeit, Familie und Work-Life-Balance, um Menschen in medizinischen Notfällen zu helfen. Dafür gibt es Grenzen und die müssen wir durchsetzen. Sonst werden wir früher oder später von Rettern zu Opfern – das kann niemand wollen. Bleibt gesund, passt auf euch auf!Bildquelle: Anna Saveleva, Unsplash