Meine Bekannte Anette hat ihre eigene Psychotherapie-Praxis eröffnet – dabei ist sie gar nicht qualifiziert. Warum ich das fahrlässig finde und was ich ihr gern sagen würde.
Liebe Anette,
herzlichen Glückwunsch zu deiner neuen Praxis! Die Praxis ist ein Traum. Die zentrale Lage, die helle und freundliche Innenausstattung: Jeder Raum strahlt Freundlichkeit und Sorgfalt aus. Alles ist sauber, modern, aber nicht zu kühl. Ein Ort zum Gesundwerden. Nur leider ist deine Praxis ein Bluff.
Deine Praxis ist wie ein Sternerestaurant mit weißen Tischdecken, Kerzenlicht und aufmerksamer Bedienung – aber wenn das Essen kommt, sind die Speisen nur aus Plastik. Alles sieht perfekt aus, aber niemand wird satt. Du hast nämlich nie Medizin studiert. Du hast auch nie Psychotherapie studiert. Und trotzdem hängt an deiner Praxis jetzt ein Schild, auf dem steht „Praxis für Psychotherapie“. Und Heilpraktikerin.
Aber Menschen verstehen nicht den Unterschied zwischen dir und deiner Scheinpraxis und einer echten Praxis für Psychotherapie. Menschen haben Depression, Ängste, traumatische Erlebnisse und Beziehungsprobleme und brauchen Hilfe. Und überall, wo sie anrufen, heißt es „Aktuell haben wir keinen Therapieplatz für Sie, bitte versuchen Sie es in sechs Monaten wieder“. Bei dir nicht. Du sagst „Komm vorbei! Diese Woche Mittwoch, um 9 Uhr?“ Und Menschen, die nicht wissen, dass das alles ein Bluff ist, sind erstmal erleichtert.
Sie lassen sich darauf ein und erzählen von ihren Nöten und schütten dir ihr Herz aus. Und du spielst Therapeutin. Du erkennst aber die klinischen Symptome einer Depression nicht und redest stattdessen von Erschöpfung. Du erkennst auch die Angststörung nicht und empfiehlst esoterischen Hokuspokus statt einer echten Verhaltenstherapie. Und trotzdem fühlen sich viele deine „Patienten“ auch erstmal besser. Da ist jemand, der aktiv zuhört, jemand, der versteht.
Und auch du fühlst dich besser: Wie eine echte Therapeutin sitzt du da mit deinem Notizheft, hakst nach oder nickst zustimmend. Mit vier Therapiestunden am Tag gehst du bei 80 € Stundenlohn nicht nur jeden Tag mit 320 € brutto nach Hause – das macht bei gerade mal 20 Therapiestunden ein stattliches Monatseinkommen von 6.400 € brutto – nein, du nimmst zusätzlich das gute Gefühl mit nach Hause, den Menschen, die heute bei dir waren, geholfen zu haben. Eigentlich doch eine Win-Win-Situation. Und auf jeden Fall besser als der Stress, den du in den Restaurants hattest, für die du vorher das Marketing gemacht hast.
Als du selbst ein Burnout hattest, war klar – es kann so nicht weitergehen. Hier kam dir zugute, dass du damals nach der Schule eine Ausbildung als Krankenpflegekraft angefangen und nach einem Jahr abgebrochen hast. Die Unbedenklichkeitsprüfung war nur eine Formalie und dank der „Heilpraktiker Psychotherapie Ausbildung online“ war der Schnellkurs innerhalb von nicht mal sechs Monaten absolviert und das zeitlich aufwändigste eigentlich die Suche nach geeigneten Praxisräumen, die Renovierung und Inneneinrichtung.
Gerade noch Parmesan und Spaghetti, jetzt Praxisschild und Sprechstunden. Und jetzt steht da „Anette M. – Praxis für Psychotherapie“ und es macht mich jedes Mal wütend, wenn ich an deinem Praxisschild vorbeifahre. Ich möchte davorstehen und den Leuten zurufen: Das hier ist eine große Lüge! Hier heilt niemand, hier therapiert auch niemand.
Aber eine irrsinnige Gesetzeslücke und ein sehr nachsichtiger Gesetzgeber erlaubt diesen ganzen Irrsinn – und es werden immer mehr. Allein in unserer Kita kenne ich drei (!) Mütter, die nach einer beruflichen Karriere in der Medienbranche, Gastronomie und bei einem Versicherer (!) jetzt eine eigene Praxis als Heilpraktikerinnen eröffnet haben. Und natürlich bekräftigen sie sich gegenseitig in ihrem Weg und fühlen sich gut dabei.
Warum rege ich mich eigentlich darüber auf? Du schadest ja niemandem. Oder? Und überhaupt – wer heilt, hat recht. Der Satz ist so alt wie falsch. Vordergründig klingt das plausibel, aber er ist gefährlich verkürzt. Psychische Beschwerden fluktuieren; es gibt bessere und schlechtere Phasen. Die besseren Phasen verbuchst du als Heilerfolg deiner Scheintherapie. In schlechten Phasen ist der Patient schuld, weil er sich nicht an deine Empfehlungen gehalten hat. Schon der Glaube an Hilfe und Heilung kann eine kurzfristige Besserung bewirken, ist aber nur ein psychologischer Effekt ohne tragfähige Grundlage.
Wenn Menschen deine Praxis aufsuchen, dann weil sie daran glauben, dort Hilfe zu bekommen. Das allein hilft. Aber es hilft nur kurz und vor allem – es heilt nicht. Es ist nur ein Effekt und der verpufft nach kurzer Zeit. Häufig fühlen sich Patienten bei Heilpraktikern auch „verstanden“ und werden dadurch emotional abhängig – ohne zu merken, dass die eigentliche Problematik bestehen bleibt.
Therapien müssen aber nachvollziehbar, ethisch, sicher und überprüfbar sein. Zuhören und Esoterik ist keine Therapie. „Aber es hat mir geholfen“ ist keine Grundlage, um gefährliche Laienarbeit zu rechtfertigen. Ein kaputter Wecker zeigt auch zweimal am Tag die richtige Uhrzeit. Trotzdem würde niemand, der auf die korrekte Uhrzeit angewiesen ist, diesen Wecker mitnehmen.
Wer Menschen helfen will, trägt Verantwortung für die Menschen, die zu ihm kommen. An erster Stelle muss das Wohl des anderen stehen, nicht das eigene. Es reicht nicht, wenn du dich damit gut fühlst, Anette. Echte Hilfsangebote brauchen fundiertes Wissen, klare Grenzen und eine ehrliche Reflexion.
Wenn man dich darauf anspricht, dass dir das Wissen fehlt, sagst du „Ich arbeite intuitiv, das ist wirkungsvoller als Wissen“. Als ich mal erwähnte, dass ein Medizinstudium nicht ohne Grund sechs Jahre plus fünf Jahre Facharztausbildung dauert, sagtest du mit leicht zusammen gekniffenen Augen „Ich habe so viel erlebt, die Schule des Lebens ist mehr wert als jedes Studium“.
Und jedes weitere Argument, mit dem man dieses absurde Theater kritisiert, wird bereits in der Luft durch Scheinargumente zerrissen. Weil du nicht zulassen kannst, dass das, was du dort machst, falsch ist. Es erfüllt dich vielleicht mit Sinn, aber es schadet den Menschen, die sich in ihrer Not hilfesuchend an dich wenden – finanziell und gesundheitlich. Du bist wie eine Feuerwehrfrau, die zu dem brennenden Haus fährt und den Menschen Bilder von Löschfahrzeugen, Wasserfontänen und gelöschten Häusern zeigt. Dank deiner Aromatherapie riechen sie den Rauch nicht mehr, aber den Brand gelöscht hat das nicht.
Warum ich dir diesen Brief nie geschickt habe? Weil ich dich eigentlich echt gern hab. Weil unsere Kinder befreundet sind und sich zum Spielen treffen und weil ich befürchte, dass das alles nicht mehr so wäre, wenn ich dir all das ehrlich sagen würde. Wie schön wäre es, wenn dich deine Empathie, Intelligenz und dein Wunsch nach persönlicher Veränderung durch eine echte Ausbildung oder ein Studium zu echter Qualifikation getragen hätte.
Aber mit Mitte 30 und drei Kindern nochmal eine jahrelange Ausbildung oder gar ein Studium? Klar, da klangen so ein paar Wochenendseminare in Hamburg, die man noch dazu mit einem gut klingenden Zertifikat abschließt, doch irgendwie attraktiver und auch irgendwie machbarer. Ich verstehe das. Ich kann das alles so gut nachvollziehen. Falsch bleibt es trotzdem.
Falls du doch mal so einen ehrlichen Moment zu dir selbst erwischt, frag dich bitte mal: Hilfst du den Patienten – oder hilft es nur dir, dich wirksam zu fühlen? Wird in deiner Praxis wirklich geheilt oder nur unterdrückt und verschoben? Ich kenne die Antworten. Und du auch. Ich hoffe, du machst was draus. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, dich irgendwann „Kollegin“ nennen zu können.
Bildquelle: mit Midjourney erstellt