Eine alltägliche Krampfaderblutung führt beinahe zur Katastrophe. Warum Routine im Rettungswesen tödlich sein kann – und was ich aus dem Fall von Herrn Lamberti mitnehme.
Ich sehe auf – und mir bietet sich ein Bild des Schreckens. Der Mann vor mir ist blass, viel zu blass. Seine Lider sind halb geöffnet, der Blick geht ins Leere, sein Körper ist auf dem Begleiterstuhl im Rettungswagen erschlafft. Sein Gesicht erinnert an die Farbe von Buttermilch. Eine Pfütze unter ihm zeugt von der unfreiwilligen Entleerung seiner Blase. Ein Stich durchfährt mich.
Ich reiße das Schiebefenster zum Fahrerraum auf: „Rechts ran! Sofort anhalten! Komm nach hinten!“ Die Worte schießen aus mir heraus, ich schleudere den kleinen Tabletcomputer beiseite. Meine Kollegin reagiert unmittelbar und bringt den Rettungswagen mit einem Ruck zum Stehen. Ich schlage mit meinem Kopf gegen den Apothekerschrank – das Team funktioniert. Die Welt gerät in Bewegung.
Fünfundzwanzig Minuten zuvor sah die Welt noch freundlich aus: Was als routinemäßiger Einsatz beginnt, entwickelt sich zu einem Weckruf, der mich daran erinnert, warum Aufmerksamkeit im Rettungsdienst keine Option, sondern eine Überlebensfrage ist. Herr Lambertis Frau empfängt uns an seiner Haustür und brachte uns zu ihrem Mann. „Das kenne ich schon“, sagt der und lächelt. „Passiert regelmäßig. Muss dann meistens wieder verödet werden, weil ich ja auch ASS einhundert nehme.“ Seine Gelassenheit überträgt sich auf uns. Die Blutung am Unterschenkel ist zwar aktiv, aber kontrollierbar. Ein ordentlicher Verband, so denke ich, wird für den Transport ausreichen.
Die Routine hatte uns in ihren Bann gezogen – in jenen trügerischen Zustand, in dem Erfahrung zur Falle wird. Wie oft hatte ich schon jemanden mit einer Krampfaderblutung am Bein im Rettungswagen sitzen? Ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, bei der eine derartige Blutung je gefährlich geworden ist. Verband dran, einladen und ab in die Klinik. Das menschliche Gehirn, evolutionär darauf programmiert, Energie zu sparen, aktiviert beim Notfallsanitäter den Autopiloten. Doch im Rettungsdienst kann der Autopilot zum Absturz führen.
„Aber bloß nicht auf den neuen Teppich, bitte“, bittet Herr Lamberti. Seine Stimme beschwört uns, als gehe es um mehr als ein Stück Stoff. Vielleicht war es ein teurer Kauf oder sein Symbol für Ordnung in einem Leben, das andernorts zu zerfallen beginnt. Ich krame in meinem Rucksack, finde eine kleine weiße Mülltüte und schiebe seinen Fuß hinein. Doch wie bleibt der Fuß nun in der Tüte und wie bleibt der Teppich sauber? Ein Klebeband fällt mir ein. Ich fixiere die Tüte damit am Unterschenkel, gleich einer provisorischen Plastiksocke gegen das Chaos.
Herr Lamberti marschiert eigenständig zum Rettungswagen. Dort nimmt er Platz auf dem Begleiterstuhl im Patientenraum, den Blick in Fahrtrichtung. Herr Lamberti ist zufrieden mit der Welt und seinem unversehrten Teppich. Ich, der Retter in der Teppichnot, setze mich ihm gegenüber auf den Notsitz. „Sie haben sich ja richtig mieses Wetter ausgesucht.“ – „Ja, ja. Und spät ist es auch noch.“ Kurzer Smalltalk, Lachen, dann schalte ich den Computer an. Meine Finger tippen auf der Tastatur. Dokumentation – der alltägliche Ritus, der uns im Rettungsdienst so oft in seinen Bann zieht.
Die Wunde, der Verband, der Patient – sie alle verschwimmen hinter den Zeilen auf dem Bildschirm. Ich vergesse ihn. Vergesse die Reevaluation. Die Gewohnheit, jener unsichtbare Schleier, hatte sich über meine Wachsamkeit gelegt. „Mit Varizenblutungen am Unterschenkel gab es noch nie ein Problem“, raunt ein leiser Gedanke im Hintergrund als Sirenengesang, der mich in den Schlaf wiegt und die Vision der weichen Couch in der Wache vor meinem geistigen Auge einblendet.
Dokumentation ist wichtig, keine Frage – doch sie darf niemals zur Hauptbeschäftigung eines Notfallsanitäters werden. Der Computer wurde zu meinem Fokuspunkt, während der Mensch daneben zur Nebensache verblasste. Ein fataler Perspektivenwechsel.
Zehn Minuten vergehen. Zehn Minuten, in denen ich in Zahlen, Uhrzeiten und Checkboxen versunken bin und dem Gedanken nachhänge, dass nur derjenige bleibt, der auch schreibt. Zehn Minuten, in denen sich still und leise eine Katastrophe anbahnt. Denn als sich mein Blick hebt, hat sich das Klebeband vom Unterschenkel gelöst. Erst in diesem Moment sehe ich das wahre Ausmaß meines Fehlers: Die improvisierte Plastiktüte hatte sich in einen Blutbeutel verwandelt.
Der Verband hatte sich in der Tüte unbemerkt gelöst und mir in diesem Moment die Kontrolle entzogen. Mindestens zwei Liter Blut – gut ein Drittel des gesamten Blutvolumens eines Erwachsenen – haben sich darin gesammelt. Die undurchsichtige Tüte, die nur gut gemeint war, hat den Blutverlust maskiert. Blut läuft nun aus der Tüte, vermischt sich mit Herrn Lambertis Urin und verteilt sich am Boden. Wir ziehen den Körper, der schwer wie Schuld war, vom Stuhl auf die Trage. Jetzt ein neuer Verband. Tourniquet? Nein, lieber einen Druckverband. Zugangsset aus der Schublade, zwei große venöse Zugänge der Farbe grau jeweils links und rechts in die Ellbeuge, Sauerstoff hochdosiert über eine Maske. Nun das EKG.
Der Mann ist bereits bradykard und dekompensiert. Flüssiges Leben strömt in seine Adern, dazu einen Schluck Atropin. Der nächste Notarzt ist mindestens dreißig Minuten entfernt. Dazu kommt dichter Nebel und ein Krankenhaus, das ebenfalls mindestens dreißig Minuten entfernt liegt – aber nach kurzer Zeit schlägt Herr Lamberti die Augen auf und reißt einen blöden Witz, dass er jetzt doch lieber zu Hause bliebe. Das Lachen ist mir jedoch vergangen.
In der Klinik angekommen, übernimmt das Schockraumteam die Versorgung von Herrn Lamberti, der die Krampfaderblutung und unsere Behandlung glücklicherweise ohne weitere Schäden überstanden hat. Im Sog der Routine geriet ich in einen Fixierungsfehler – die gefährliche Annahme, dass das, was früher funktioniert hat, auch diesmal funktionieren würde. Die Vergangenheit hatte mich geblendet für die Gegenwart. Auch aus diesem Einsatz ziehe ich einige Lehren für mein Rettungsdienstleben:
Und so bleibt am Ende die Plastiktüte als schiefes Symbol, denn sie füllte sich mit all dem, was ich nicht wahrhaben wollte: Nachlässigkeit, Routine, die stille Selbstüberschätzung der Erfahrung. Wir sind zwar Türsteher an der Schwelle des Unberechenbaren, ausgestattet mit Wissen, Handgriffen und Automatismen. Doch in Wahrheit – das habe ich an diesem Tag begriffen – ist der gefährlichste Moment der, in dem wir glauben, alles verstanden zu haben.
Vielleicht, denke ich heute, sind es diese kleinen Fehler, die uns daran erinnern, dass kein einziger Einsatz wie der andere ist und immer unvoreingenommene Aufmerksamkeit verdient. Der Teppich blieb sauber, der Patient lebt. Was nachhaltig bleibt, ist der Schock einer Beinahe-Katastophe – und die Demut, beim nächsten Mal genauer hinzusehen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney