Menschen denken gern in Kategorien: schwarz und weiß, gut und schlecht, Körper und Psyche. Warum uns eine Entweder-oder-Mentalität nicht weiterbringt.
Vor zwei Jahren rutschte das Grundschulkind einer guten Freundin aus und stürzte schwer. So schwer, dass es trotz korrekter Fallschule – ich kenne das Kind auch aus meinem früheren Ju-Jutsu-Training – den Arm „grob disloziert“ gebrochen hatte, wie es im Arztbrief hieß. Laut Aussage der Angehörigen muss das auch heftig geklungen haben: Die Mutter habe es bis unten gehört und gedacht, ein schwerer Stuhl sei umgefallen. Der Arm wurde operativ versorgt, inzwischen sind die Drähte wieder raus. Gemäß der allgemeinen Lehrmeinung müsste das rein körperliche Problem damit gelöst sein. Spoiler: war es aber nicht.
Als ich den Jungen das nächste Mal im Training sah (er wollte sich auf seinen nächsten Gürtel vorbereiten), war ich schockiert, dass er alles vergessen zu haben schien, was das Thema Fallschule anging. So ungelenk habe ich ihn noch nie gesehen. Auch als ich ihn mal zufällig beim Handballtraining sah, war ich irritiert, dass er plötzlich die Bälle nicht mehr ordentlich fing. Am Ende stellte sich heraus, dass er Angst hatte. In seiner Wahrnehmung war die Fallschule schuld an dem Armbruch und er hatte Angst, dass durch die festen Würfe beim Handball wieder etwas kaputtgehen könnte.
Eine normale Reaktion – und ein gutes Beispiel dafür, dass auch rein körperliche Beschwerden wie Frakturen NATÜRLICH eine psychische Komponente haben. Genauso wie psychische Diagnosen körperliche Auswirkungen haben: Depressive sind häufig weniger körperlich aktiv (und damit verletzungsgefährdeter und auch eher kardiovaskulär nicht so fit bzw. haben ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko). Die Stresshormone etc. haben ebenso Auswirkungen.
Ich finde diese Einteilung in ihrer Absolutheit echt problematisch – denn für viele sind nur körperliche Erkrankungen „richtige“ Erkrankungen, psychische Erkrankungen sind quasi diskutabel. Ja, auch ich habe bei einigen Leuten den Eindruck, dass sie eine psychische Erkrankung als Deckmantel benutzen. Eine Patientin, die früher in Rente gehen wollte, kündigte mir ihren Plan quasi vorher an. Da sie wusste, was sie beim Psychiater im Fragebogen angeben muss, steht jetzt die Diagnose und sie wird von ihm bis zum geplanten Renteneintritt krankgeschrieben. Aber: Der allergrößte Teil der psychisch Erkrankten hat wirklich einen hohen Leidensdruck und es ist wichtig, diese Erkrankungen auch ernst zu nehmen – und auch die körperlichen Folgen zu sehen.
Für den Jungen ließ sich seine Angst glücklicherweise in ein paar Gesprächen lösen. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass die Fallschule am Armbruch schuld war, ohne darüber nachzudenken, was ohne die Fallschule hätte passieren können. Wir erklärten ihm, dass bei der Kraft, die bei dem Sturz gewirkt hat, ohne die Fallschule möglicherweise sein Schädel und damit sein Gehirn in Gefahr gewesen wären. Und wir übten noch einmal gezielt das Fallen und Bälle Fangen mit ihm. Danach war das Ganze auch schnell vorbei.
Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft auch anerkennen können, dass es immer ein mehrdimensionales Krankheitsbild ist – so gut wie nichts ist nur körperlich oder psychisch. In der Hinsicht finde ich das biopsychosoziale Krankheitsmodell der Allgemeinmediziner – in der Palliativmedizin ergänzt um die spirituelle Komponente – so wertvoll. Aber es muss mehr sein als nur ein Wort. Eine wirkliche Sichtweise. Und davon scheinen wir leider oft noch weit, weit entfernt.
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