Wer sich um einen Demenzkranken kümmert, hat kaum Zeit für sich selbst – und muss sich dann noch für Freizeit rechtfertigen. Schluss damit!
„Das bisschen Haushalt macht sich von allein, sagt mein Mann …“ – Als ich sehr klein war, lief dieses Lied manchmal bei meiner Oma im Radio. Ich fand es immer seltsam, aber letztlich ist es ja eine Art Parodie darauf, dass manche Leute gern über Situationen urteilen, die sie selbst nur sehr begrenzt kennen. Und zu der Zeit, als dieses Lied im Radio kam, war das für viele Männer und Haushalte der Fall, auch wenn sich das glücklicherweise bei vielen geändert hat.
Zuletzt schoss mir dieses Lied durch den Kopf, als ich mit einem Bekannten über seine Eltern sprach. Sein Vater leidet seit Jahren unter einer zunehmenden Demenz. Besonders schwierig ist, dass er zusätzlich einen insulinpflichtigen Diabetes hat. Was mir jedoch bei seinen Schilderungen aufgestoßen ist, war die Verurteilung seiner Mutter, die „jede Gelegenheit nutze, um sich zu verziehen“. Das sagt sich natürlich deutlich einfacher, wenn man mit eigener Familie über 300 km entfernt wohnt und nur ab und an zu Besuch kommen kann.
Diese Verurteilung ist kein Einzelfall – es ist ein Muster, das ich in der Hausarztpraxis immer wieder sehe. Gerade bei Demenzpatienten. Oft werden die Schwierigkeit der Pflege und die Höhe des emotionalen Preises unterschätzt – und wie lange beides andauern kann. Die Pflege von Angehörigen ist an und für sich oft schon schwierig. Wenn die Situation nur temporär ist (z. B. nach einem schweren Unfall) und es eher um körperliche Probleme geht, halten die meisten es einigermaßen gut aus.
Das Problem bei Demenz: Alle wissen, dass es nicht mehr besser wird, nur noch schlimmer. Von der Persönlichkeit desjenigen, in den man sich vor vielen, vielen Jahren verliebt hat, ist immer weniger übrig. Oft bricht im Verlauf das soziale Umfeld komplett weg. Die Demenzerkrankung sorgt oft dafür, dass sich Betroffene auf genau EINE Bezugsperson (z. B. die Ehefrau) fokussieren. Dann kann selbst ein Gang in den Keller zum Drama werden. Oder Einkaufen, weil der Demenzkranke dann auf die Suche geht und sich möglicherweise in Gefahr begibt. Das kennen viele von ihren Kleinkindern – aber da weiß man, dass es in absehbarer Zeit vorbei ist.
Ich begleite gerade wieder eine Familie, die schon seit mehreren Jahren eine intensivere Versorgung bräuchte, um die Ehefrau zu entlasten. Bislang wurde dieser Vorschlag immer abgeblockt – auch von der Ehefrau. Sie will ja niemandem zur Last fallen und ihren Ehemann nicht im Stich lassen. Dann erkannte der Patient seine Frau teilweise nicht mehr und wurde körperlich aggressiv. Die Ehefrau akzeptierte daraufhin unser Hilfsangebot, sodass der Patient nun regelmäßig in die Tagespflege geht und sie selbst auch einmal durchatmen kann. Und entgegen dessen, was viele denken: Meine Erfahrung ist, dass sich viele Demenzpatienten sehr gut in einer Tagespflege einleben. Denn wenn gerade frühere Erinnerungen angesprochen werden (mit Musik, etc.), holt das die Demenzpatienten meistens emotional deutlich besser ab als ein Gespräch mit den eigenen Kindern, die in einer anderen Zeit groß geworden sind.
Mein Wunsch wäre, dass wir als Gesellschaft diese Probleme deutlich eher ansprechen – damit wir auch bessere Hilfsangebote machen können. Inzwischen sind immer mehr Frauen berufstätig. Und sich neben dem Job nicht nur um die Kinder, sondern auch um die Pflege der (Schwieger-)Eltern zu kümmern, geht nicht einfach nebenbei. Aber dafür muss die Information erst zu denjenigen durchsickern, die diese Situationen nicht am eigenen Leib erfahren. Die aktuell betroffene Generation der Ehepartner kommt aus einer Zeit, in der über derartige Belastungen nicht gesprochen wurde. Das macht es noch schwieriger, denn eine Ehefrau, deren Bewegungsradius aus Angst um ihren demenzkranken Partner nicht über das Haus hinausgeht, wird von niemandem gesehen – nicht nur sprichwörtlich, sondern eben auch wörtlich. Sie kann ja nirgendwo mehr hin.
Demenz ist eine brutale Erkrankung, da sie den Patienten ja auch die Erinnerung an die Angehörigen nimmt und viele Demenzkranke zu fürchterlichen Karikaturen ihrer selbst werden. Und das in einem jahrelangen Prozess. Ich sage meinem Mann immer wieder, dass er mich um Himmels willen in solch einer Situation in ein Heim geben soll, denn das will ich weder ihm noch meinen Kindern antun. Und wie oben beschrieben muss ein Heim nicht so schlecht sein, wie viele immer befürchten.
Mein Bekannter schien nach unserem Gespräch zumindest nachdenklich geworden zu sein – ich hoffe, es hilft und dass die Familie ausreichend Entlastung für die Ehefrau einplant. Mehr kann ich nicht tun. In der Praxis versuchen wir weiterhin, Angehörige von Demenzkranken möglichst frühzeitig auf die Problematik hinzuweisen und entsprechende Hilfen zu organisieren. Denn dieses Problem wird uns in den nächsten Jahren ganz fürchterlich um die Ohren fliegen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge jetzt alle in das entsprechende Alter kommen. Mir ist klar, dass es eine schwierige Diskussion wird, aber letztlich ist es so, wie die Autorin Laurie Graham beschreibt, die ein Buch über die Demenzerkrankung ihres Ehemannes geschrieben hat: „Keiner von uns möchte daran erinnert werden, dass Demenz zufällig, unerbittlich und erschreckend häufig ist.“
Bildquelle: Getty Images, Unsplash