Im Alter werden Stürze häufiger. Dabei lässt sich bereits früh erkennen, wer besonders gefährdet ist. Warum das Gangbild mehr verrät als die klassische Bildgebung – ein orthopädischer Blick auf die aktuelle Forschung.
In der orthopädischen Diagnostik steht traditionell die Bildgebung (Sonographie, Röntgen, Schnittbildgebung) im Fokus. Doch wer den funktionellen Zustand eines Patienten wirklich verstehen will, muss ihn in Bewegung erleben. Denn was das statische Röntgen oder das hochauflösende MRT oft übersieht, zeigt sich im dynamischen Zusammenspiel von Gelenken, Muskeln und Nervensystem – konkret: im Gangbild.
Bewegungsanalyse avanciert damit vom biomechanischen Spielzeug zum medizinischen Frühwarnsystem. Immer mehr Studien belegen, dass funktionelle Auffälligkeiten oft lange vor strukturellen Schäden messbar sind – sofern man genau hinschaut.
Eine aktuelle Studie aus dem Journal of Experimental Biology belegt eindrucksvoll: Schon geringe Veränderungen des Gleichgewichts, etwa durch künstliche Einschränkungen mit Schuheinlagen, lassen sich zuverlässig durch tragbare Bewegungssensoren identifizieren.
Der Clou: Die Probanden selbst nahmen die Einschränkung kaum bewusst wahr – die Sensorik jedoch sehr wohl. Damit wird deutlich: Subklinische oder kompensatorische Veränderungen im Bewegungsverhalten lassen sich frühzeitig objektiv erfassen, bevor Symptome oder strukturelle Veränderungen auftreten. Dies eröffnet neue Horizonte für eine präventive Orthopädie, in der nicht erst reagiert, sondern antizipiert wird.
Die klinische Relevanz ist enorm: In der orthopädischen Praxis können Veränderungen im Gangbild – etwa nach VKB-Rupturen, bei beginnender Arthrose oder nach Sprunggelenksverletzungen – auf funktionelle Instabilitäten hinweisen, lange bevor diese klinisch evident werden. Studien belegen zudem, dass auffällige Bewegungsmuster ein erhöhtes Risiko für Re-Events oder degenerative Progression darstellen. Das macht die Bewegungsanalyse zu einem prädiktiven Werkzeug: Wer sich anders bewegt, wird wahrscheinlich auch anders altern – zumindest orthopädisch betrachtet.
Gerade im Bereich der Sturzprophylaxe bei einer zunehmend alternden Gesellschaft spielen solche Untersuchungen eine wichtige Rolle. Aber auch in der Nachsorge von sportorthopädischen Eingriffen kann die Ganganalyse über Rückkehrfähigkeit in den Alltag oder auf den Sportplatz oder etwaigen Re-Interventionsbedarf mitentscheiden.
Durch die Kombination mit EMG, Kraftmessplatten und KI-gestützter Auswertung entsteht heute ein hochauflösendes Bild der individuellen Bewegungsökonomie. Bewegungsdaten lassen sich nicht nur diagnostisch nutzen, sondern auch zur Verlaufskontrolle und Therapieanpassung einsetzen.
Ob postoperativ, präventiv oder im Rahmen von Return-to-Play-Protokollen – Bewegungsanalyse liefert valide Daten zur objektiven Entscheidungsfindung. Die Zukunft der orthopädischen Funktionsdiagnostik ist damit nicht nur mobil, sondern auch messbar. Und das in Echtzeit, im Alltag des Patienten.
Bewegung ist ein Spiegelbild der Gesundheit. Und jede Veränderung – sei sie noch so subtil – ist ein Hinweis auf eine mögliche Störung. Der Alltag auf dem Laufband ersetzt die Momentaufnahme im Bild. Wer wissen will, wie es seinem Patienten geht, sollte ihn nicht nur ansehen – sondern gehen lassen. Denn Bewegung lügt nicht. Und wir sollten endlich anfangen, ihr zuzuhören.
Bildquelle: John Robert Marasigan, Unsplash