Herr S. hat starke Übelkeit und Schwindel. Seine Vermutung: Das Tiramisu am Vorabend war schuld. Doch in der Notaufnahme kommen schnell Zweifel auf. Rätselt mit bei unserem interaktiven Fall!
Herr S. ist kein regelmäßiger Arztgänger, das ist er noch nie gewesen. Hat er körperliche Beschwerden, wartet er zunächst einmal ab, ob sie von selbst wieder weggehen. Bisher ist er damit immer gut gefahren. Mit seinen 80 Jahren fühlt er sich recht gesund. Seine Knie bereiten ihm deutlich weniger Probleme, seit beide nacheinander mit einer Knieprothese versorgt wurden. Zu seinem Hausarzt geht er unregelmäßig.
Sein Blutdruck ist meist leicht erhöht und sein Herz schlägt nicht mehr so kräftig wie früher. Wenn er mal schneller als gewöhnlich spazieren geht oder viele Treppen steigen muss, bekommt er schlecht Luft und muss eine kurze Pause machen. Manchmal schlägt sein Herz auch unregelmäßig, das merkt er aber meistens nicht. Ab und zu fühlt es sich so an, als ob das Herz einen Schlag aussetzt. Eigentlich müsste er laut seinem Hausarzt Tabletten gegen Bluthochdruck und auch einen Blutverdünner nehmen.
Herr S. hat aber den Eindruck, dass es ihm für sein Alter relativ gut geht. Durch die Einnahme der Tabletten würde er sich nur kränker fühlen, als er ist. Daher nimmt er die verordneten Tabletten meist nicht ein.
An einem Frühlingstag bemerkt Herr S. beim Aufstehen vom Frühstückstisch, dass ihm schwindlig ist. Er setzt sich wieder hin und versucht es erneut mit dem Aufstehen. Er kann sich gerade so auf den Beinen halten, beim Weg zur Toilette musste er sich an der Wand festhalten, um nicht zu stürzen. Dazu ist ihm auch noch übel, er muss sich einmal erbrechen. Herr S. beschließt, seine Pläne für den Tag zu ändern und ruht sich erst einmal aus. Er vermutet eine Magenverstimmung – vielleicht war das Tiramisu vom Italiener schuld. So verbringt er einen Tag und eine Nacht überwiegend im Bett, um sich auszukurieren.
Als er am nächsten Tag beim Aufstehen erneut massiven Schwindel hat und sich kaum auf den Beinen halten kann, ruft er schließlich den Rettungsdienst, von dem er in die Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses gebracht wird. Die Verdachtsdiagnose: Gastroenteritis mit Exsikkose.
Herr S. kommt zu dir in die Notaufnahme. Die Vitalparameter werden gemessen, es wird Blut abgenommen und ins Labor geschickt. Du erhebst die Anamnese und den körperlichen Befund. Dabei erhältst du die folgenden Informationen:
Blutbild
Leukozyten (Tsd./µl)
8,8
3,9–9,8
Thrombozyten (Tsd./µl)
142 ↓
146–328
Erythrozyten (Mio/µl)
3,92 ↓
4,5–5,8
Hämoglobin (g/dl)
12,2 ↓
13,5–17,6
Hämatokrit (%)
35,2 ↓
39,6–50,6
Gerinnung
Quick (%)
79
70–130 %
INR
1,1
0,85–1,15
PTT (s)
28
25,1–37,7
Weitere Werte
Natrium (mmol/l)
126 ↓
136–146
Kalium (mmol/l)
3,2 ↓
3,4–4,5
Kreatinin (mg/dl)
0,65
0,67–1,17
Harnstoff (mg/dl)
25
16,6–48,5
GOT/AST (U/I)
48
10–50
GPT/ALT (U/I)
29
γ-GT (U/I)
117 ↑
< 60
Bilirubin gesamt (mg/dl)
1,24
< 1,4
CRP (mg/dl)
8,3 ↑
< 5
TSH (µU/ml)
1,48
0,27–4,2
Wie würdet ihr jetzt weiter vorgehen?
Als nächsten diagnostischen Schritt hast du dich für ein Schädel-CT entschieden. Im Vordergrund steht bei Herr S. die akut aufgetretenen massive Stand- und Gangunsicherheit, welche auch als Stand- und Gangataxie bezeichnet werden kann. Die häufigste Ursache ist eine Blutung oder eine Ischämie im Kleinhirn. Von besonderem Interesse im CT ist deshalb die Darstellung der hinteren Schädelgrube mit Kleinhirn und benachbarten Strukturen.
Nativ-CT des Schädels, hintere Schädelgrube. Grüner Pfeil: linksseitiger Kleinhirninfarkt. Roter Pfeil: 4. Ventrikel.
Im CT wird, wie vermutet, ein ischämischer Schlaganfall im Kleinhirn als Ursache der Stand- und Gangataxie identifiziert. Da der Symptombeginn bereits über 24 Stunden zurückliegt, ist der Schlaganfall im CT vollständig demarkiert. Das Infarktareal ist leicht geschwollen. Eine Blutung wurde ausgeschlossen. Du nimmst Herrn S. auf die Schlaganfallstation auf, wo er kontinuierlich am Monitor und engmaschig klinisch überwacht wird.
In den nächsten 24 Stunden nimmt die neurologische Ausfallsymptomatik zu. Während bei Aufnahme nur eine leichte Dysarthrie bestand, ist die Sprache jetzt fast nicht mehr zu verstehen. Auch wirkt der Patient zunehmend schläfrig. Es wird ein Kontroll-CT durchgeführt, bei dem sich eine zunehmende Schwellung des Infarktareals und Verlegung des 4. Ventrikels zeigt. Die Weite der Seitenventrikel und des dritten Ventrikels ist leicht zunehmend, was für einen Liquoraufstau spricht.
Ein Liquoraufstau entsteht, wenn der Abfluss des Liquor cerebrospinalis behindert ist. Der Liquor wird in den Seitenventrikeln, die zentral in den Großhirnhemisphären liegen, produziert und fließt von dort über den dritten und vierten Ventrikel in den Subarachnoidalraum ab, wo er resorbiert wird.
Ist der Abfluss behindert, z. B. weil der vierte Ventrikel durch einen Schlaganfall komprimiert wird, wird weiter Liquor produziert, dieser kann aber nicht mehr abfließen – ein Rückstau ist die Folge. Dieser Rückstau führt zu einer Erweiterung der Ventrikel, man spricht von einem Hydrozephalus. Ein zunehmender Hirndruck ist die Folge, der unbehandelt lebensbedrohlich ist.
Es kommt zu Symptomen wie zunehmender Vigilanzminderung, Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen. Nimmt der Hirndruck weiter zu, treten durch eine Kompression des Hirnstamms Symptome wie Störungen der Pupillomotorik, Atem- und Kreislaufstörungen hinzu.
Die Therapie besteht in der operativen Entlastung, nach Möglichkeit mit Entfernung der raumfordernden Struktur. Dadurch wird der Hirnstamm entlastet und der Liquorfluss wieder hergestellt. Bei einem Hydrozephalus ohne eine komprimierende Raumforderung besteht die Therapie in einer Ableitung des Liquors über eine externe Ventrikeldrainage (EVD) oder einen ventrikuloperitonealen Shunt.
Aufgrund des klinisch und bildmorphologisch nachgewiesenen Liquoraufstaus wird die Indikation zur subokzipitalen Dekompressions-OP gestellt, die OP wird zeitnah als Notfall durchgeführt. Bei der OP wird die hintere Schädelgrube eröffnet und das infarzierte Kleinhirngewebe entfernt. So wird zum einen Druck vom Hirnstamm genommen und damit dessen lebensbedrohliche Schädigung verhindert. Zum anderen wird der vierte Ventrikel entlastet, sodass der Liquor ungehindert abfließen kann und ein weiterer Liquoraufstau verhindert wird.
Die Operation verläuft komplikationslos, die weitere Behandlung jedoch nicht: Es treten ein hyperaktives Delir und eine Aspirationspneumonie auf. Im Verlauf stabilisiert sich die Situation jedoch und die neurologischen Beschwerden gehen schrittweise zurück. Die Dysarthrie bessert sich, ist aber noch leichtgradig vorhanden. Auch besteht weiterhin eine Schluckstörung. Herr S. wird schrittweise mobilisiert und ist schließlich mit Hilfe auf Zimmerebene mobil.
Als Ursache des Kleinhirninfarkts wird das bereits vor Aufnahme bekannte Vorhofflimmern identifiziert. Eine andere Schlaganfallursache wird in den zusätzlichen Untersuchungen (Duplex-Sonographie der hirnversorgenden Arterien, Echokardiographie) nicht gefunden. Um weitere Schlaganfälle in Zukunft zu verhindern, wird deshalb eine Antikoagulation begonnen.
Take-Home Messages:
Bei einer akut aufgetretenen Gang- oder Standunfähigkeit ist ein Schlaganfall eine wahrscheinliche Ursache. Es sollte aktiv danach gesucht werden und die Beschwerden nicht auf eine möglicherweise zusätzlich bestehende internistische Erkrankung wie einen Infekt oder eine Exsikkose geschoben werden.
Bei einem großen Kleinhirninfarkt besteht in den ersten Tagen die Gefahr einer zunehmenden Schwellung mit Kompression von Hirnstamm und viertem Ventrikel. Die Patienten müssen engmaschig überwacht und in einer Klinik mit Neurochirurgie behandelt werden.
Nach einem Schlaganfall treten häufig Komplikationen auf, die Behandlung erfolgt deshalb auf einer Schlaganfallstation mit spezialisierten Strukturen und Personal, das sich mit den typischen Komplikationen gut auskennt. Die Prognose für die Patienten wird durch die Behandlung auf der Schlaganfallstation verbessert.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney