Morgens auf der Autobahn: Alles geht ganz schnell, es kracht – ein Notfall. Was wie ein Actionfilm beginnt, endet in fassungsloser Stille. Von unserem täglichen Kampf gegen den Tod.
Die A8 München in Richtung Dasing, 1 Uhr morgens. Über die Heckscheibe bahne ich mir einen Weg in den zerstörten grasgrünen Opel Rekord, der im Hintern eines Sattelschleppers steckt. Glas knistert unter meinem Schuh, die Luft riecht nach Öl und Feuer. „Ich kriege keine Luft“, sagt der junge Typ zu mir, der vor mir sitzt und vom Blech des Autos eingekeilt ist. „… keine Luft.“
„Sauerstoff“, schreie ich meiner Kollegin Marlene zu, die längst Reservoir-Maske samt Sauerstoffflasche in der Hand hält. Ich sehe ihre Finger zittern. Die Atemwege schwellen zu – vermutlich durch das Trauma. Halskrause dran. Atemgeräusche sind beidseits noch hörbar. In meinem Kopf springt ein Algorithmus an. Ich denke nicht an ihn, den jungen Mann – ich denke nur an das, was ihn töten könnte:
Marlene reißt das Zugangsset aus dem Rucksack und punktiert die Vene am linken Unterarm. Gut, dass Marlene so gut ist, geht mir eine Hundertstelsekunde durch den Geist. Ich winke dem Zugführer der Feuerwehr: „Tango Charly“ rufe ich, – ‚Time Critical‘. Ein taktischer Code, denn niemand soll hören, wie mies es in diesem Moment steht.
Der Feuerwehrler weiß sofort, was Phase ist und beordert seine Leute her. Schweres Gerät verschafft uns Zugang zu dem Mann, der jetzt überhaupt keine Luft mehr bekommt. Die Atemgeräusche sind weg. Teile seines Gesichts sind kaputt. Alles ist voller Blut und die Gesichtsschädelfraktur sieht massiv aus. Ich frage mich, wie er mit dem zerstörten Atemweg überhaupt noch sprechen konnte. Der Atemweg – wir müssen die Luftwege unter Kontrolle kriegen. Ich versuche es mit einem Beatmungsbeutel.
Eine halbe Stunde zuvor befanden wir uns zufällig auf der B300 in Richtung der A8 auf der Rückfahrt nach einem Krankentransport und fuhren in Dasing auf die Autobahn in Richtung München auf. Bis dahin dachte ich, Actionfilm-Klischees bleiben im Kino. Auch das Ehepaar Gerold dachte vermutlich zuerst an nichts Böses, als die beiden sieben Minuten zuvor auf der Gegenspur in Richtung Stuttgart mit einem Motorschaden liegenblieben. Das Heck ihres roten Ford Kuga ragte zu einem Teil in die Fahrbahn hinein. Ein junger Zeuge, der nur nach Hause wollte, hielt an. Ein Moment später war der Wagen aus der Schusslinie geschoben.
Aber dann kam der Vierzigtonner, dessen Fahrer sich vor den beiden Fahrzeugen am Straßenrand erschreckte. Ein Ruck am Lenkrad, ohne vorher einen Blick in den Spiegel zu werfen. Den fatalen Links-Schwenk des Giganten nahm der junge Fahrer des Opel Rekord erst im eingefrorenen Moment der Erkenntnis vor der Kollision wahr. Dann explodierte die Nacht in einem Inferno aus Lärm und Gewalt. Der Lastwagen verschluckte den Opel. Die Frontscheibe zerbarst wie gefrorenes Glas unter einem Hammerschlag. Blech knüllte zusammen wie Stanniol in einer Faust. Die Plastikkonsole wurde zur Zange, die die Beine des Mannes einklemmte. Dann legte sich eine surreale Stille über die Szenerie, nur durchbrochen vom Rauschen der Nacht und dem Ersticken des fackelnden Opel-Motors.
Der Fahrer des LKWs reagierte mit überraschender Schnelligkeit. Schon stürzte er mit seinem Feuerlöscher herbei und sprühte eine Wolke Löschschaum unter die Motorhaube des Opels. Der junge Helfer zückte das Handy, tippte die 112 und hatte uns noch nicht wahrgenommen. In diesem Moment registrierten wir den Unfall auf der Gegenspur kurz nach Auffahrt auf die A8. Wir wendeten. Wir rannten.
Im RTW kann niemand von uns das A-Problem lösen. Die Maske funktioniert nicht, der Tubus geht nicht rein. Die Herzfrequenz sinkt. Cannot intubate, cannot ventilate: Worte wie aus einem Albtraum und der Horror aller Einsatzkräfte. Ein Notarzt kommt endlich dazu. Keine große Geste, nur ein Schnitt zurück ins Leben: eine Koniotomie. Er gleitet mit dem Skalpell durch die Haut. Blut läuft seitlich am Hals hinunter und färbt das Tragelaken rot ein. Das Loch mit dem umgedrehten Skalpell aufgedehnt, dann den Tubus rein. Er sitzt. Die Lunge hebt sich. Aber da ist kein Körper mehr, der kämpfen will. Der Mann bekam zu lange keinen Sauerstoff. Es dauert eine Sekunde, bis Marlene mit der Herzdruckmassage anfängt. Dann ein Milligramm Adrenalin in die Vene. Weiterdrücken, weiterbeatmen, eine vor sich hin oszillierende Asystolie vor Augen.
Ein zweiter Notarzt kommt hinzu, eine gottlose Diskussion entbrennt. Der erste will abbrechen – Trauma, Herzstillstand, schlechte Prognose. Der zweite sagt: jung, sportlich, reanimierbar, gerade erst asystol. Ich höre mich selbst sagen: „Wir sehen hier nichts, was man im OP nicht wieder hinbekommen kann“, aber der Notarzt sagt: „Wir hören auf.“ Marlene hält inne und unser Lifepak 15 antwortet mit einem Sinusrhythmus, als wäre dies ein letzter Akt göttlicher Ironie. Also weiter mit dem alten Plan: Narkose mit Beatmung, Immobilisation. Dann meldet Marlene ihn im Schockraum des nächstgelegenen Versorgungsstufe-IV-Krankenhauses an und tritt das Gaspedal durch das Bodenblech.
Die Geschichte hätte perfekter nicht verlaufen können und es hört sich an, als seien Szenen für einen Actionfilm gedreht worden. Ich selbst habe eine derartige Geschichte nur dieses eine Mal erlebt: Die Entstehung schicksalhaft und wie geskriptet, die Rettung läuft on point, keine Sekunde wird verschenkt, alles ist Teamarbeit auf Hochglanz. Der Patient kann unter dem Einsatz des Könnens aller Beteiligten gerettet werden. Aber als Marlene später mit leerem Gesicht aus dem Schockraum kommt, wussten wir: Das Schicksal hatte längst entschieden. Wir waren nur Statisten eines fertigen Drehbuchs.
„Er ist tot“, sagt sie. „Hirnstammblutung. Es war alles umsonst.“ Die Worte fallen, als wären sie aus Blei gegossen. Draußen fährt ein Müllwagen vorbei. Irgendwo klappert Metall, ein Hund bellt. Der Himmel beginnt zu dämmern, als hätte die Nacht genug gesehen. Marlene hält den rot verfärbten Beatmungsbeutel noch in der Hand, als wüsste sie nicht, wohin damit. Ich nehme ihn ihr ab, ohne etwas zu sagen, weil Worte versagen, wo das Leben selbst an seine Grenzen stößt. Die Kollision war kein Unfall. Sie war ein Urteil. Wir hatten alles getan, alles lief perfekt. Aber der Tod hatte uns kämpfen sehen – und war dann lächelnd weitergegangen.
Bildquelle: Matthew Henry, Unsplash