Von der Diagnose über die Therapie zur Nachsorge – bei diesem Krebs ist alles kompliziert. Die aktualisierte Leitlinie bringt viel Licht ins Dunkel.
Wollte man dem Krebs der Harnblase menschliche Attribute zuschreiben, würde „unberechenbar“ passen. Die Heimtücke des Tumors zieht sich als roter Faden durch die 500 Seiten der soeben aktualisierten S3-Leitlinie „Früherkennung, Diagnose, Therapie und Nachsorge des Harnblasenkarzinoms“ unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Urologie und der Deutschen Krebsgesellschaft.
Die Unberechenbarkeit beginnt schon damit, dass man nicht genau weiß, wie man die Fälle eigentlich zählen soll. In der RKI-Publikation Krebs in Deutschland für 2019/2020 ist Harnblasenkrebs der einzige Tumor, bei dem hinter den Neuerkrankungen in Klammern die „in situ-Tumore und Neubildungen unsicheren oder unbekannten Verhaltens“ hinzuaddiert sind. Man kann sich also aussuchen, ob man für 2020 von 17.130 oder von 30.810 Neuerkrankungen ausgehen möchte. Nur die Zahl der Harnblasenkrebs-Todesfälle ist eindeutig: Im selben Jahr starben 5.877 Menschen.
Hohes Alter, Rauchen und männliches Geschlecht sind bekannte Risikofaktoren. Auch Gifte können Blasenkrebs auslösen. Ein Beispiel sind Aristolochiasäuren, die in der früher als Heilpflanze geschätzten Osterluzei vorkommen – und auch im 1981 vom Markt genommenen Tonikum „Frauengold“. Chemiearbeiter sind besonders betroffen; so geht von den bis 2010 als Berufskrankheit anerkannten 2000 Harnblasenkarzinom-Fällen die Hälfte auf das Konto der chemischen Industrie. Viel mehr weiß man nicht über die Entstehung des Tumors, auch nicht, ob es eine genetische Disposition gibt.
Prävention ist kaum möglich. Blasenkrebs lässt sich nicht verhindern, man kann nur Zigarettenqualm und die bekannten Gifte meiden. Obwohl laufend Tumorzellen mit dem Urin abgehen und so leicht zugänglich sind, gibt es nach wie vor keine empfohlene Früherkennungsuntersuchung. Auch vom seit vielen Jahren diskutierten NMP22-Marker wird als Vorsorgetest abgeraten.
Selbst die Diagnose ist komplex. Zwar gehen fast alle Blasentumore mit einer sichtbaren Hämaturie einher, doch zeigt umgekehrt Blut im Urin nur in jedem 12. Fall bei Männern und jedem 30. Fall bei Frauen ein Blasenkarzinom an. Zur Abklärung soll zunächst das Zellsediment mikroskopisch untersucht werden. Auch Marker auf den Zellen oder frei im Urin lassen sich bestimmen. Danach soll eine Weißlicht- oder auch Fluoreszenz-Zystoskopie für die Suche nach Läsionen zum Einsatz kommen. Am Ende sichert eine Gewebeuntersuchung die Diagnose.
Sogar bei einem Risiko-Score von 0, also dem denkbar günstigsten Fall, kommt ein Drittel der Tumore fünf Jahre nach der Behandlung wieder. Entsprechend weit gehen die Therapieempfehlungen: Resektion plus Spülung der Blase mit Bacillus Calmette-Guérin (BCG) oder Chemotherapeutika ist zwar bei Niedrigrisiko-Karzinomen die Methode der Wahl, doch selbst in diesen relativ „harmlosen“ Fällen kommt eine radikale Entfernung der Blase infrage.
Die Leitlinienautoren betonen mehrfach, wie wichtig die Aufklärung der Patienten über die Chancen und Risiken aller Schritte ist. Das scheint bei einer frühen Blasenentfernung besonders geboten, weil sie „in einigen Fällen eine Überbehandlung darstellt“, wie es etwas lapidar heißt. Mit den Folgen einer radikalen Zystektomie müssen alle Operierten klarkommen, auch die, die gar nicht von dem Eingriff profitieren. Und die Folgen sind dramatisch: Abgesehen von den üblichen Komplikationen eines so massiven Eingriffs müssen für die Ableitung des Harns andere Wege gefunden werden. Dabei ist keine der Möglichkeiten – von Ileum- oder Colon-Conduit bis Neoblase – den anderen überlegen.
Wie unberechenbar das Harnblasenkarzinom ist, zeigt sich auch an den Empfehlungen zur Nachsorge. Um nur ja kein Aufflammen der Krankheit zu übersehen, summieren sich bei einem Hochrisikokarzinom die Zystoskopien, Urinzytologien und Bildgebungen über die Jahre auf insgesamt 35 Untersuchungen.
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