Die Zahl der Autismus-Diagnosen steigt weltweit an. Manche verdächtigen Impfungen, Feinstaub oder westliche Ernährung als Ursache – allen voran US-Gesundheitsminister Kennedy. Was stimmt wirklich?
Für Eilige gibt’s am Ende eine Zusammenfassung.
Die US-Gesundheitsbehörde CDC erfasst regelmäßig über ein Netzwerk, wie häufig Ärzte Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) diagnostizieren. Zuletzt wurden Zahlen aus dem Jahr 2022 veröffentlicht. Sie basieren auf Daten von über 390.000 Achtjährigen aus 16 US-Regionen. Die Auswertung überrascht: Eines von 31 Kindern erhält mittlerweile eine ASS-Diagnose – deutlich mehr als eines von 36 im Jahr 2020 und eines von 150 Kindern im Jahr 2000. Jungen sind weiterhin deutlich häufiger betroffen als Mädchen, im Verhältnis von 3,4 zu 1.
Schnell wurde daraus ein Politikum. Autismus habe das Ausmaß einer „Epidemie“ erreicht, so US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy. Genau deshalb plane er, „Hunderte Forscher aus der ganzen Welt“ in eine Studie einzubinden, die bis September die Ursachen zu Tage fördern solle. Die wissenschaftliche Welt ist erschüttert. Doch als Frage bleibt: Warum schnellen die Zahlen derart rasch nach oben?
Etliche Studien zeigen, dass genetische Faktoren maßgeblich zur Entstehung von ASS beitragen. Besonders deutlich wird das beim Vergleich eineiiger Zwillinge: Ist ein Kind betroffen, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass auch das andere eine Autismus-Spektrum-Störung entwickelt, bei über 70 Prozent. Auch Geschwisterkinder tragen ein deutlich erhöhtes Risiko.
Inzwischen haben Forscher Hunderte Genvarianten identifiziert, die mit Autismus in Zusammenhang stehen. Diese genetischen Veränderungen beeinflussen zentrale Prozesse im Gehirn – etwa die neuronale Signalübertragung, die Bildung von Synapsen oder die frühe Hirnentwicklung. Ein einzelnes „Autismus-Gen“ gibt es aber nicht. Vielmehr handelt es sich um ein Zusammenspiel vieler kleiner genetischer Varianten und seltener Mutationen, die gemeinsam das Risiko erhöhen. Besonders häufig betroffen sind Gene, die an der Entwicklung von Nervenzellen und an der Regulation der Genaktivität im Gehirn beteiligt sind.
Genetische Faktoren spielen zweifellos eine wichtige Rolle bei der Entstehung von ASS – aber sie erklären nicht alles. Während der Schwangerschaft können Prozesse ablaufen, welche das Risiko erhöhen. Ein entscheidender Einflussfaktor ist die Stoffwechselgesundheit der Mutter. Kinder von Frauen mit Diabetes – insbesondere bei bereits vor der Schwangerschaft bestehendem Diabetes – haben ein deutlich erhöhtes Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen wie ASS, ADHS oder Lernschwierigkeiten. Das zeigt eine umfassende Metaanalyse von 202 Studien mit über 56 Millionen Mutter-Kind-Paaren. Auch die Intelligenz- und Bewegungsentwicklung war in vielen Fällen beeinträchtigt. Offenbar kann Diabetes bei der Mutter die neuronale Entwicklung des Fötus erheblich beeinflussen.
Ein weiterer Risikofaktor ist die Dauer der Schwangerschaft. Beispielsweise zeigt eine groß angelegte Studie mit mehr als vier Millionen Kindern: Frühgeborene haben ein deutlich höheres Risiko für ASS. Besonders ausgeprägt war dieser Zusammenhang bei extremen Frühgeburten zwischen der 22. und 27. Schwangerschaftswoche – hier war das Risiko bis zu viermal höher als bei termingerecht geborenen Kindern. Doch selbst bei frühen Termingeburten (37.–38. Woche) fanden Wissenschaftler ein leicht erhöhtes Risiko. Der Effekt trat bei Jungen wie Mädchen auf und blieb auch dann bestehen, wenn familiäre Einflüsse berücksichtigt wurden.
Darüber hinaus stehen Luftverschmutzung und Pestizide zunehmend im Verdacht, die neurologische Entwicklung des ungeborenen Kindes ungünstig zu beeinflussen. Eine große Studie mit rund 295.000 Mutter-Kind-Paaren zeigt: Besonders Feinstaub (PM2.5) in den ersten beiden Schwangerschaftsdritteln war mit einem erhöhten Risiko für ASS verbunden. Auch Ozon spielte eine Rolle: Eine hohe Belastung am Ende der Schwangerschaft erhöhte das Risiko leicht, während eine mittlere Konzentration paradoxerweise eher protektiv sein könnte; die Gründe sind unklar. Jungen waren deutlich stärker betroffen als Mädchen.
Auch der Kontakt mit Pestiziden während der Schwangerschaft ist von Bedeutung. In einer Langzeitstudie zeigten elfjährige Kinder häufiger Verhaltensauffälligkeiten, wenn ihre Mütter in der Frühschwangerschaft dem Insektizid Chlorpyrifos ausgesetzt waren – besonders bei Jungen. Ein ähnlicher, wenn auch schwächerer Zusammenhang wurde für das Pestizid Diazinon beobachtet. Die Ergebnisse stützen frühere Hinweise auf mögliche neurotoxische Effekte dieser Stoffe während sensibler Phasen der Gehirnentwicklung.
Die Studien verdeutlichen, wie wichtig ein möglichst schadstoffarmes Umfeld während der Schwangerschaft sein könnte – nicht nur für die körperliche Gesundheit des Kindes, sondern auch für seine neurologische Entwicklung.
Die Forschungsergebnisse machen deutlich: Es gibt nicht die eine Ursache für ASS. Vielmehr ist die Entstehung dieser neurologischen Entwicklungsstörung das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Faktoren.
Zwar berichten CDC-Wissenschaftler von einem klaren Anstieg der diagnostizierten Fälle – doch dieser Trend bedeutet nicht zwangsläufig, dass ASS tatsächlich häufiger auftreten. Einige Wissenschaftler führen die Entwicklung auf ein gestiegenes Bewusstsein in der Bevölkerung und auf eine deutlich verbesserte Diagnostik zurück. Außerdem wurden in den letzten Jahren die Diagnosekriterien erweitert. Dadurch erfassen Ärzte auch mildere Formen als zu früheren Zeiten.
Neben diesen diagnostischen Veränderungen gelten sowohl genetische Einflüsse als auch Umweltfaktoren als mögliche Ursachen des Trends. Wie genau dieses Zusammenspiel aussieht und ob sich dadurch kausale Erklärungen für mehr ASS-Diagnosen erklären lassen, ist allerdings offen – und dürfte sich kaum bis September 2025 abschließend klären lassen.
Das Wichtigste auf einen Blick
Bildquelle: erstellt mit Midjourney