Kardiologen lassen vor planbaren Eingriffen kariöse Defekte bei Patienten sanieren. Zahnärzte wiederum versuchen, Endokarditis-Risiken durch prophylaktische Gabe von Antibiotika zu minimieren. Neue Studien bestätigen: Gut gemeint ist bekanntlich das Gegenteil von gut.
Gelangen Enterokokken, Staphylokokken, Streptokokken oder Bakterien der HACEK-Gruppe in den Organismus, führen sie im ungünstigsten Fall zu einer Entzündung des Endokards. Seit Jahren diskutieren Ärzte und Zahnärzte, welche Rolle Keime innerhalb der Mundhöhle spielen. In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob Zahnsanierungen vor planbaren Eingriffen wirklich Sinn machen.
Kendra J. Grim und Mark M. Smith, Rochester, haben die Thematik anhand von Behandlungsdaten näher untersucht. Im Studienzeitraum von 2003 bis 2013 unterzogen sich 205 Patienten, bei denen eine Herz-OP bevorstand, zahnmedizinischen Eingriffen. Meist hatten sie Karies oder Abszesse. Zahnärzte führten 208 Extraktionen durch — im Schnitt sieben Tage vor dem kardiologischen Eingriff. Meist standen Herzklappen-OPs an, teilweise in Kombination mit Bypässen oder Aortenplastiken. Bereits durch vermeintlich harmlose Eingriffe im Mundbereich kam es bei 16 Patienten zu schwerwiegenden Komplikationen. Dazu gehörten zerebrovaskuläre Ereignisse, ein akutes Koronarsyndrom oder Nierenversagen. Sechs Patienten verstarben sogar kurz nach der zahnmedizinischen Behandlung. Bei weiteren 14 mussten geplante kardiovaskuläre Interventionen verschoben werden. Zum Vergleich führt Smith aktuelle Leitlinien des American College of Cardiology und der American Heart Association an. Beide Fachgesellschaften bewerten zahnmedizinische OPs als kleinere Eingriffe mit Mortalitäten beziehungsweise kardiovaskulären Komplikationsraten unter einem Prozent. Für ihre weitaus kritischeren Resultate führen Grim und Smith gleich mehrere Erklärungen an. Sie sehen die Anästhesie selbst als möglichen Auslöser unerwünschter Ereignisse. Auch komme es zum massiven Anstieg von Entzündungsfaktoren nach Zahnextraktionen, schreiben die Forscher. Bleibt noch die Verzögerung dringender kardiovaskulärer Eingriffe durch zahnärztliche Behandlungen. Aufgrund der retrospektiv ausgewerteten Daten sind die Autoren eher vorsichtig mit Ratschlägen. Sie weisen aber darauf hin, jeden Patienten individuell zu bewerten.
Doch es gibt auch andere Interpretationsmöglichkeiten. In einem Kommentar zur Studie findet Michael Jonathan Unsworth-White, Plymouth, deutlichere Worte als die Autoren. Schlechte Mundhygiene erhöhe das Risiko einer Endokarditis. Hier sollten prophylaktische Ansätze des Zahnarztes Risiken minimieren. Hinsichtlich vorbeugender Zahnextraktionen spricht Unsworth-White von „akzeptiertem Wissen“, das weltweit zu tausenden Eingriffen führe. „Dr. Smiths Gruppe bittet uns, diese Philosophie in Frage stellen: eine deutliche Abkehr vom derzeitigen Denken“. Das ist aber nicht der einzige Paradigmenwechsel im Zusammenspiel von Zahnarzt und Kardiologe. In seinem Kommentar weist Unsworth-White auf den prophylaktischen Einsatz von Antibiotika hin, um Endokarditiden vorzubeugen: „Die American Heart Association und das National Institute for Health and Clinical Excellence in Großbritannien haben ihre Unterstützung für diese Praxis zurückgezogen, weil Gefahren durch überflüssige Antibiotikagaben alle anderen Risiken aufwiegen“, so der Wissenschaftler. Regelmäßiges Zähneputzen, Zahnseide und sogar Kaugummi würden Bakterien vielleicht besser verdrängen als so manche Behandlung.
Ganz so einfach ist die Sachlage aber nicht, berichtet Anne-Marie Glenny von der Cochrane Oral Health Group, Manchester. Zusammen mit Kollegen hat sie untersucht, ob Hochrisikopatienten von einer Antibiotika-Prophylaxe profitieren. „Es ist bekannt, dass invasive, zahnmedizinische Eingriffe eine bakterielle Endokarditis auslösen können“, schreibt Glenny. „Es ist aber nicht bekannt, wie viele Bakteriämien tatsächlich zu Endokarditiden führen.“ Forscher griffen deshalb auf das Cochrane Oral Health Group's Trials Register, das Cochrane Central Register of Controlled Trials, auf MEDLINE und auf EMBASE zurück. Gleichzeitig wurden Einträge im US National Institutes of Health Trials Register und im metaRegister of Controlled Trials ausgewertet. Aufgrund der geringen Häufigkeit bakterieller Endokarditiden schlossen sie Kohortenstudien und Fall-Kontroll-Studien mit ein, inklusive möglicher Vergleichsgruppen. Randomisierte, kontrollierte Studien waren nicht verfügbar. Zumindest eine Fall-Kontroll-Studie ließ sich aber finden. Zum Inhalt: Niederländische Ärzte berichteten von 24 Risikopatienten, die innerhalb von 180 Tagen nach kieferchirurgischen Interventionen eine Endokarditis entwickelten – trotz Antibiotika. Als Kontrolle dienten Fallberichte aus kardiologischen Ambulanzen. Signifikante Effekte der pharmakologischen Prophylaxe ließen sich nicht nachweisen. Glenny: „Es gibt keine Hinweise, ob die Antibiotikaprophylaxe bei Patienten mit dem Risiko einer bakteriellen Endokarditis durch Zahnbehandlungen wirksam oder unwirksam ist.“ Unklar sei, ob mögliche Schäden und Kosten der Antibiotikagabe positive Effekte aufwägten. Sie fordert Ärzte deshalb auf, vor ihrer Entscheidung mit Patienten Nutzen oder Risiken zu besprechen und abzuwägen.