Polymedikation ist seit Jahren eine der großen Herausforderungen der Medizin. Intelligente Tools könnten gefährliche Kombinationen erkennen und unnötige Verordnungen vermeiden – warum nutzen wir sie dann nicht?
Die Zahl der verschriebenen Arzneimittel in Deutschland steigt weiter an. Wie die Techniker Krankenkasse (TK) festgestellt hat, wurden Versicherten im Jahr 2023 im Durchschnitt 275 Tagesdosen verordnet. Das sind rund 2,5 Prozent mehr als im Vorjahr, als der Durchschnitt noch bei 269 Tagesdosen lag. Seit Beginn der TK-Erhebung im Jahr 2000 (201 Tagesdosen) ist das ein Anstieg um etwa 37 Prozent.
Besonders häufig verordnet werden Medikamente gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen – allen voran Blutdrucksenker. Sie machen mit durchschnittlich 105 Tagesdosen pro Erwerbsperson den größten Anteil aus. An zweiter Stelle folgen Mittel gegen Magen- und Darmbeschwerden wie gastroösophagealem Reflux mit 37 Tagesdosen. Auf Rang drei liegen Arzneien für das Nervensystem, vor allem Antidepressiva, mit durchschnittlich 29 Tagesdosen pro Kopf.
Das hat Folgen: Von Polymedikation oder Polypharmazie spricht man, wenn Patienten dauerhaft mehrere verschiedene Medikamente gleichzeitig einnehmen. Häufig werden als Richtwert fünf oder mehr Arzneimittel genannt. Eine einheitlich festgelegte Grenze für Polymedikation gibt es allerdings nicht.
In Deutschland nimmt jeder zweite Patient über 65 regelmäßig fünf oder mehr -verschreibungspflichtige Präparate ein – rezeptfreie Medikamente noch nicht mitgerechnet. Besonders hoch ist die Rate bei den 75- bis 80-Jährigen: Hier schluckt etwa jede dritte Person täglich mehr als acht verschiedene Arzneimittel. Etwa ein Fünftel bis ein Viertel der über 65-Jährigen erhält potenziell inadäquate Medikamente, also Wirkstoffe, die für ältere Menschen ungeeignet oder riskant sein können. Rund 77 Prozent dieser Verordnungen stammen von Hausärzten.
Mit der Zahl der Medikamente steigt das Risiko für Medikationsfehler und für Interaktionen. In einer 30-tägigen Erhebung mit über 10.000 Patientenvorstellungen in vier großen deutschen Krankenhaus-Notaufnahmen fanden Ärzte in 6,5 Prozent der Fälle eine mögliche, wahrscheinliche oder gesicherte unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW). Besonders betroffen waren ältere Menschen: Rund 70 Prozent der Verdachtsfälle betrafen Patienten ab 65 Jahren, die drei oder mehr Medikamente gleichzeitig einnahmen.
Experten gehen von 16.000 bis 25.000 durch Neben- und Wechselwirkungen verursachten Todesfällen aus. Exakte Zahlen gibt es aber nicht.
Die Ursachen sind komplex: Patienten werden oft gleichzeitig von verschiedenen Fachärzten betreut. Jeder kümmert sich um seine „Baustellen“ – etwa das Herz, die Lunge oder den Stoffwechsel – doch eine zentrale Koordination der Gesamtmedikation findet selten statt. So entstehen gefährliche Überschneidungen oder unnötige Mehrfach-Verordnungen. Das mag sich durch die elektronische Patientenakte und durch das E-Rezept vielleicht ändern, aber kaum von heute auf morgen.
Ein weiterer Treiber ist die strikte Orientierung an medizinischen Leitlinien. Diese basieren meist auf einzelnen Krankheitsbildern. Bei multimorbiden Patienten führt das dazu, dass für jede Diagnose eine eigene Therapie verordnet wird – ohne, dass die Wechselwirkungen im Gesamtkontext ausreichend berücksichtigt werden. Nicht zuletzt spielen auch die Erwartungen der Patienten eine Rolle: Viele kommen mit der festen Vorstellung in die Praxis, ein Rezept zu erhalten – und der Druck, etwas zu verordnen, wächst.
Gleichzeitig hinterfragen Ärzte zu selten, ob alle Medikamente noch notwendig, sinnvoll und sicher sind. Die Gründe sind vielfältig:
Doch selbst beim Wunsch, die Zahl der verordneten Medikamente zu verringern, bleibt der tatsächliche Effekt mitunter gering. Eine Metaanalyse von 25 Studien zeigt, dass Interventionen die durchschnittliche Zahl der verordneten Medikamente nur minimal gesenkt haben – von 7,4 auf 7,2 pro Patient. Auch bei klinischen Endpunkten blieb der Nutzen aus: Weder die Rate der Krankenhauseinweisungen noch die Sterblichkeit konnten durch die Maßnahmen signifikant beeinflusst werden.
Warum das so ist, bleibt unklar. Vermutlich spielen Ängste eine Rolle – etwa vor Komplikationen durch das Absetzen etablierter Therapien. Künstliche Intelligenz (KI) verspricht, hier Abhilfe zu schaffen: durch die automatisierte Erkennung von Wechselwirkungen, durch die Priorisierung nach Relevanz und durch Vorschläge zur Optimierung der Medikation.
Algorithmen der künstlichen Intelligenz können große Arzneimitteldatenbanken auswerten, um potenzielle Interaktionen zwischen Wirkstoffen zu identifizieren. Sie kombinieren KI mit klassischen Deprescribing-Leitlinien und priorisieren Medikamente, deren Nutzen-Risiko-Verhältnis individuell schlecht erscheint – etwa Benzodiazepine, Protonenpumpenhemmer oder NSAR bei älteren Menschen. Grundlage sind Wechselwirkungsdaten wie die ABDA-Datenbank, Lexicomp oder Micromedex. Systeme wie MediQ oder MedSafer analysieren nicht nur einfache 1:1-Beziehungen, sondern zunehmend auch komplexere Mehrfachinteraktionen, wie sie bei Polypharmazie typisch sind.
MediQuit wiederum unterstützt Ärzte beim systematischen Vorgehen. Das Tool identifiziert zunächst, welches Medikament möglicherweise nicht mehr notwendig ist oder bei welchen Präparaten die Risiken den Nutzen überwiegen. In der zweiten Phase folgt ein Entscheidungsprozess, bei dem Arzt und Patient gemeinsam die Vor- und Nachteile eines Absetzens abwägen. Schließlich erhalten Patienten in der dritten Phase klare Anweisungen zum Absetzen des Medikaments sowie zur Überwachung möglicher Auswirkungen, um die Sicherheit während des Prozesses zu gewährleisten.
Manche KI-Systeme lassen sich direkt in Krankenhaus- oder Praxissoftware integrieren und greifen auf aktuelle Diagnosen, Laborwerte und Medikationsverläufe zu. So können sie automatisiert Vorschläge für Therapievereinfachung oder Dosisreduktion machen – etwa bei Niereninsuffizienz oder nach akuten Ereignissen wie Stürzen.
Doch im ärztlichen Versorgungsalltag spielen solche Tools kaum eine Rolle: Laut Umfragen von Bitkom und vom Hartmannbund spielt KI zwar in 15 Prozent der Praxen eine Rolle. Ärzte setzen jedoch vor allem auf die Unterstützung bei Diagnosen oder bei administrativen Aufgaben. In Kliniken hat sich der Einsatz seit 2022 sogar verdoppelt: 18 Prozent der Ärzte nutzen dort KI, etwa bei der Auswertung bildgebender Verfahren. KI-Tools, um Medikationen zu optimieren, werden nicht genannt. Das gibt zu denken. Eine Vermutung: Neben technischen und rechtlichen Hürden ist die Akzeptanz wohl gering.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney