Trotz moderner Therapien schreitet die Multiple Sklerose bei vielen Betroffenen schleichend voran. Jetzt könnte ein neuer Wirkstoff die schubunabhängige Progression erstmals eindämmen.
Bei Multipler Sklerose (MS) haben sich die therapeutischen Möglichkeiten über die letzten 20 Jahre so rasant entwickelt wie in kaum einem anderen Bereich der Neurologie. Zahlreiche neue Wirkstoffe wurden zugelassen: In den 90er Jahren kam mit den Interferonen die erste krankheitsmodifizierende Therapie auf den Markt – mit begrenzter Wirksamkeit und erheblichen Nebenwirkungen.
2006 wurde dann mit Natalizumab die erste hochwirksame Therapie zugelassen, die in vielen Fällen Krankheitsschübe zum ersten Mal vollständig verhindern konnte. In der Folge nahm das Feld richtig Fahrt auf; verschiedene orale Therapien wurden zugelassen. Die Entwicklung von gegen B-Zellen gerichteten Antikörpertherapien wie Ocrelizumab war ein weiterer Meilenstein. Mittlerweile sind mindestens 17 verschiedene Medikamente zur Behandlung der MS verfügbar.
Mit den aktuell verfügbaren Therapien lässt sich die Schubrate bei den meisten Patienten deutlich senken und auch die Krankheitsaktivität im MRT kann häufig zum Stillstand gebracht werden. Dennoch bleibt die MS eine komplexe Erkrankung – eine große Herausforderung besteht in der Behandlung der schubunabhängigen Krankheitsprogression (progression independent of relapse activity, PIRA). Dabei verschlechtern sich die Symptome schleichend, ohne dass Krankheitsschübe mit einer akuten Verschlechterung auftreten.
Während die aktuellen Therapien Schübe zwar effizient verhindern, haben sie meist nur wenig Einfluss auf diese schleichende Progression. Ein neues Medikament gibt Anlass zur Hoffnung, da es mit einem neuen Wirkmechanismus direkt in diese schubunabhängige Krankheitsprogression eingreift.
Eine Phase-III-Studie untersuchte den Wirkstoff Tolebrutinib bei sekundär progredienter MS ohne Schubaktivität; einer Verlaufsform, für die bislang kein Medikament zur Verfügung steht. In die Studie wurden 1.131 Patienten eingeschlossen und per Zufall entweder mit Tolebrutinib oder Placebo behandelt. Primärer Endpunkt war der Anteil der Patienten mit bestätigter Behinderungsprogression, die durchschnittliche Nachbeobachtungszeit betrug ca. zweieinhalb Jahre. Tolebrutinib verringerte – im Vergleich zu Placebo – das Risiko für eine Behinderungszunahme signifikant. Während es unter Placebo bei 30,7 % zu einer Zunahme der Behinderung kam, war dies unter Tolebrutinib nur bei 22,6 % der Fall.
Auch das Nebenwirkungsprofil war günstig, die Nebenwirkungsrate unterschied sich nur geringfügig zwischen Tolebrutinib und Placebo. Es bestand ein leicht erhöhtes Risiko für respiratorische Infekte, wie es von anderen MS-Therapeutika, die allesamt in das Immunsystem eingreifen, bekannt ist. Zudem kam es in einigen Fällen zu einem Anstieg der Leberwerte.
Tolebrutinib gehört zu den Bruton-Kinase-Inhibitoren (BTK-Inhibitoren), die ursprünglich in der Leukämie-Behandlung eingesetzt wurden. Diese Medikamentenklasse unterbindet verschiedene zelluläre Signalwege, die vor allem in Immunzellen aktiv sind. Dabei werden sowohl Zellen des erworbenen Immunsystems (z. B. B-Zellen) als auch des angeborenen Immunsystems (z. B. Mikroglia) beeinflusst.
Vor allem die Wirkung auf Mikroglia scheint für die Wirkung in der MS-Therapie wichtig zu sein – denn diese werden mit der schubunabhängigen Krankheitsprogression bei MS in Verbindung gebracht. Bisherige MS-Therapien haben nur wenig Einfluss auf Mikroglia. Im Gegensatz dazu können BTK-Inhibitoren wegen ihrer geringen Molekülgröße vom Blut in das zentrale Nervensystem gelangen und ihre Wirkung direkt am Ort des Geschehens entfalten.
Medikamente wie Ocrelizumab gelangen wegen ihrer Größe nicht in das zentrale Nervensystem und wirken deshalb nur indirekt: Immunzellen in der Peripherie werden zerstört, können deshalb nicht mehr in das Gehirn einwandern und dort keine weitere Entzündung auslösen. Das Problem: Entzündungsprozesse, die im Gehirn bereits aktiv sind und dort lokal weiter entfacht werden, können so nicht beeinflusst werden. Diese Lücke könnte durch die BTK-Inhibitoren geschlossen werden.
Neben der Wirkung auf Mikroglia beeinflussen BTK-Inhibitoren auch B-Zellen – wie andere hochwirksame MS-Therapeutika auch. Da sie die B-Zellen aber nicht (wie z. B. die Antikörpertherapie Ocrelizumab) komplett zerstören, sondern deren Aktivität modulieren, erhoffte man sich ein besseres Nebenwirkungsprofil und eine geringere Infektanfälligkeit. Die Hoffnung auf ein günstiges Nebenwirkungsprofil scheint sich zumindest bei Tolebrutinib zu bestätigen, allerdings fällt dafür die Wirkung auf Krankheitsschübe gering aus. Neben der genannten Studie wurden gleichzeitig die Ergebnisse einer weiteren Studie veröffentlicht, die Tolebrutinib nicht bei sekundär progredienter, sondern bei schubförmiger MS untersuchte.
Bei dieser zweiten Studie wurde Tolebrutinib mit Teriflunomid verglichen, einem etablierten MS-Medikament mit nachgewiesener Wirksamkeit auf die Schubrate. Bei Patienten mit schubförmiger MS war Tolebrutinib dabei nicht überlegen. Die Reduktion der Schubrate betrug in beiden Studienarmen ca. 0,1 Schübe/Jahr. Auch Evobrutinib, ein weiterer Vertreter der BTK-Inhibitoren, hatte in ähnlichen Studien enttäuscht. Nach Veröffentlichung dieser Studiendaten war die Enttäuschung zunächst groß, hatte man doch zuvor große Hoffnungen in die neue Medikamentenklasse gesetzt.
Die Studien mit Tolebrutinib zeigen: Fortschritte in der MS-Therapie sind möglich – doch sie machen auch klar, dass ein individuelles Behandlungskonzept heute wichtiger denn je ist. Einige Medikamente wirken besser auf die schubförmige Krankheitsaktivität, während die neuen BTK-Inhibitoren ihre Stärke vor allem beim Aufhalten der schubunabhängigen Krankheitsprogression ausspielen können. Vielleicht werden in bestimmten Fällen auch Kombinationstherapien zur Anwendung kommen müssen. Die Erfolge in der MS-Therapie der letzten Jahre dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es weiter viele Betroffene gibt, die auf eine bessere, nebenwirkungsärmere und individualisierte Therapie warten.
Fox et al.: Tolebrutinib in Nonrelapsing Secondary Progressive Multiple Sclerosis. N Engl J Med, 2025. doi: 10.1056/NEJMoa2415988.
Oh et al.: Tolebrutinib Phase 3 GEMINI 1 and 2 Trial Group. Tolebrutinib versus Teriflunomide in Relapsing Multiple Sclerosis. N Engl J Med, 2025. doi: 10.1056/NEJMoa2415985.
Montalban et al.: Safety and efficacy of evobrutinib in relapsing multiple sclerosis (evolutionRMS1 and evolutionRMS2): two multicentre, randomised, double-blind, active-controlled, phase 3 trials. Lancet Neurol, 2024. doi: 10.1016/S1474-4422(24)00328-4.
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