Wird ein Vater inhaftiert, leidet die ganze Familie. Doch während Mütter oft Unterstützung erfahren, bleiben Männer auf sich allein gestellt – mit fatalen Folgen für Kinder, Partnerschaft und Resozialisierung.
Wenn Mütter aufgrund einer Inhaftierung aus der Familie gerissen werden, ist das für das soziale Gefüge eine mittlere Katastrophe. In der Regel eine größere Katastrophe, als wenn es den Vater trifft. Und das nicht nur – bei allem Feminismus –, weil die Kinder nach wie vor meist deutlich enger an die Mutter gebunden sind. Auch aus ganz banalen, infrastrukturellen Gründen.
Es fängt damit an, dass Väter in den wenigsten Fällen wissen, wann die Jüngste zum Kinderschwimmen, die Mittlere ins Ballett und der Große zur Nachhilfe muss. Gerade in sogenannten Brennpunktfamilien kann es vorkommen, dass die Väter nicht einmal die Adresse der Schule kennen. Die Väter haben auch keine Chance, sich bei anderen Eltern Hilfe zu holen, denn sie sind in keiner der verhassten WhatsApp-Gruppen, haben nicht einen einzigen Kontakt von anderen Eltern in ihrem Handy und auch nicht den blassesten Schimmer, in welcher Fahrgemeinschaft die Tochter ist, wenn sie Dienstagabend zum Hip-Hop muss.
Väter fehlen natürlich auch – aber anders. In erster Linie, da hat sich seit über hundert Jahren nichts geändert, als Versorger. Fällt der Ehemann weg, fällt mindestens die Hälfte des Familieneinkommens weg. Meist sogar mehr, denn die Mütter schaffen es neben der Kinderversorgung eben nicht, Vollzeit zu arbeiten.
Auf Seiten der Väter selbst hingegen ist der Schmerz größer, als man sich das vielleicht vorstellt. Männer leiden meist massiv unter der Trennung von ihrer Familie. Viele von ihnen haben seit über zehn Jahren nicht mehr allein in einem Bett geschlafen. Es ist jetzt nicht so, als würden alle diese Männer mustergültige Ehen führen: Während der therapeutischen Betreuung erfahre ich oft von beiderseitiger Untreue, häuslicher Gewalt und jahrelanger sexueller und emotionaler Funkstille. Aber man war eben da – zusammen. Und jetzt, wenn man seinen Partner am dringendsten bräuchte, sitzt man in einem neun Quadratmeter Betongrab, ohne, dass man auch nur ein Lebenszeichen des anderen erhaschen könnte.
Gerade in den ersten Wochen der Untersuchungshaft wissen die Männer meist nichts von ihren Frauen und Kindern. Nicht, wie es ihnen geht, ob die Miete bezahlt werden kann, nicht einmal, ob sie noch leben. Meist steht diese Frage nicht realistisch zur Debatte, aber die Nächte sind lang und die grausamsten Fantasien und Ängste sind nachts um drei die stabilsten.
Die Familienpflege im Gefängnis ist im Männervollzug ein vernachlässigtes Feld. Während bei Frauen mehr oder weniger ausreichende Sozialarbeiterstunden für Sonderbesuche mit den Kindern eingeplant sind, ist das bei Männern auch heute noch eher eine Ausnahme – mit fatalen Folgen. Kinder sind höchst anpassungsfähige Lebewesen. Und wenn ein Teil des Familiengefüges von heute auf morgen weg ist, wird die Lücke emotional schnell auf die eine oder andere Art geschlossen.
Die Geschichten, die den Kindern aufgetischt werden, variieren nach Persönlichkeit und Alter des Kindes sowie nach Fantasie der Mutter. Meist ist der Vater „arbeiten“ oder „im Krankenhaus“. Beides ist für ein kleines Kind schwer greifbar, insofern ist der Papa halt einfach „weg“. Das Kind baut seinen emotionalen Alltag um diese Erkenntnis herum und kommt klar mit dem, was übrig ist. Die Mutter, meist eine Oma und zwei, drei Tanten.
Kommt Papa nach zwei Jahren aus der Haft zurück nach Hause, so erhofft er sich, dass nun alles wird wie früher, die verlorene Zeit in hundert harmonischen Ausflügen nachgeholt wird und man nach einigen Monaten gemeinsam auf dem Sofa eingekuschelt kopfschüttelnd an die schlimme Zeit zurückdenkt.
Die Realität ist eine andere: Das Kind hat sich inzwischen mit der Situation arrangiert. Nicht, weil es undankbar ist – es hat schlicht in den Überlebensmodus geschaltet. Die kindliche Psyche würde nicht damit klarkommen, sich Tag für Tag aufs Neue mit dem Trauma des Verlustes eines Elternteiles auseinanderzusetzen. Der Schmerz, den ein Kind empfindet, wenn ein Elternteil verlorengeht, ist nicht zu vergleichen mit der äquivalenten Trauer eines Erwachsenen. Ein Kind ist allein nicht überlebensfähig und ist sich dessen auch voll bewusst. Das bedeutet, der Verlust eines Elternteils geht mit einer tiefen Verzweiflung einher – einer Todesangst, welche das Kind schnellstmöglich auflösen muss. Das kindliche System ist nun darauf angewiesen, sich so schnell wie möglich umzuorientieren, sich anzupassen und sein Heil in den verbliebenen Erwachsenen zu suchen.
Diese Entwicklung verläuft, je nach Alter, sehr unterschiedlich. Nicht selten aber will der Vierjährige am Ende vom frisch entlassenen Papa erstmal gar nichts mehr wissen. Dieser hat sich aber in den vergangenen zwei Jahren an dem geistigen Bild festgehalten, seinem kleinen Tobias nach der Entlassung das größte Eis der Welt zu kaufen, mit ihm jedes Wochenende in den Zoo und unter der Woche jeden Tag auf den Spielplatz zu gehen. Tobias war in dieser Fantasie glücklich und unbeschwert, hat gemeinsam mit dem Papa gelacht und seine Nähe gesucht. In diesen Vorstellungen fielen Worte wie „bester Papa der Welt“ und „so toll, dass du wieder da bist“.
Und jetzt sitzen sie hier. Der Papa und der Tobias. In der Eisdiele. Der Biene-Maja-Becher ist kaum angerührt, der Papa wird ungeduldig: „Iss halt noch was von dem Vanilleeis.“ – „Ich maaag des nimma“, Tobias klingt wie eine gleichzeitig langgezogene und gepitchte Tonspur. Zu hoch, zu laut, schmerzhaft in den Ohren. Zwölf Euro hat der Spaß gekostet. Papa zwingt sich selbst noch einen Teil der halb geschmolzenen süßen Pampe rein.
„Gehen wir jetzt in den Zoo?“, versucht er, die Stimmung zu retten. „Ich mag zur Mama“ – „Die Mama hattest du jetzt zwei Jahre lang. Ich mag jetzt was mit dir machen.“ Einem Vierjährigen in einer emotionalen Lage mit Logik kommen – super Idee. Tobias wirft die Sirene an. Erst ganz leise, dann crescendoartig auf volle Lautstärke anschwellend, mit ein paar Schluchzern am Ende. Die Leute schauen. Ein paar schütteln still den Kopf, andere ziehen genervt die Augenbrauen hoch und wenden sich ab.
Papa überlässt den Rest der geschmolzenen Biene Maja den Wespen, packt den kleinen Feuermelder auf den Arm und fährt desillusioniert zurück nach Hause. Tobias hat in den letzten zwei Jahren wichtige Entwicklungsschritte im Kreise seiner neuen Kernfamilie gemacht. Er braucht Papa nicht mehr. Mehr noch: Papa stört. Papa spürt das und das sitzt.
Viele Ehen überleben die Entlassung nicht. Es gibt aus diesem Grund seit einigen Jahren Bestrebungen, männliche Gefangene im Kontakt mit ihren Familien zu unterstützen. Diese Bestrebungen sind, wie so vieles, vollkommen abhängig vom jeweiligen Personal. Systematische Unterstützung von Seiten des Ministeriums gibt es hier keine. Trägt man den Bedarf auf der Jahrestagung den Anzugträgern aus München vor, so erhält man die immergleiche Antwort: „Wir unterstützen und befürworten Ihr Engagement uneingeschränkt, aber die Schaffung weiterer Stellen hierfür ist nicht darstellbar.“ In der Übersetzung heißt das: „Wenn Sie zu wenig Arbeit haben und Ihnen langweilig ist, können Sie machen, was Sie wollen, aber lassen Sie uns mit Ihren Schnapsideen in Ruhe.“
Wir Fachdienste machen also, was wir immer machen: Wir übernehmen noch mehr Aufgaben mit demselben Stundenschlüssel und Lohn. Wir organisieren Sonderbesuche mit den Kindern, helfen den Vätern, kindgerechte Briefe zu gestalten, schaffen zusätzliche Telefonzeiten in unseren Büros und drucken Tonnen von Ausmalbildern aus.
Die Sozialdienste übernehmen hier einen großen Teil der Arbeit. Wir Psychologen klinken uns einerseits ein, wenn Not am Mann ist, aber auch ganz bewusst. Das soziale Umfeld ist der Faktor, mit dem die Resozialisation steht und fällt. Eine therapeutische Betreuung ohne Berücksichtigung und Einbeziehung der Familiendynamik wäre schlicht unprofessionell.
Es ist faszinierend, wie augenblicklich eine völlig andere Seite meiner Klienten sichtbar wird, wenn die Kinder ins Spiel kommen. Da ist Herr Diallo. Seine Eltern stammen aus dem Senegal, er selbst ist hier geboren und aufgewachsen. Herr Diallo trainiert gerne und viel, was ihm ein imposantes Auftreten beschert. Seine Oberarme und meine Oberschenkel dürften in etwas denselben Durchmesser haben.
Herr Diallo hat Drogen und gelegentlich auch mal Hehlerware verkauft. Er wollte „seine Familie versorgen“ – und dafür halt nicht jeden Tag um sechs Uhr aufstehen. Überaschenderweise führte ihn der eingeschlagene Weg nicht zu einem Haus am Meer und unbeschwertem Familienglück mit finanzieller Unabhängigkeit, sondern direkt ins Gefängnis. Von der Kohle ist nichts übrig, im Gegenteil, er hat noch über 3.000 Euro Schulden bei seinem Lieferanten, weil die Polizei die letzte Lieferung beschlagnahmt hat.
Herr Diallo hat eine neun Monate alte Tochter, Maja. Alle sechs Wochen darf seine Frau mit dem Baby in die Anstalt zu einem Sonderbesuch kommen. Dieser findet in einem speziellen Raum im Besuchsbereich statt; mit einer Fensterfront, einem runden Tisch und jeder Menge Spielzeug. Heute ist es wieder so weit: Herr Diallo betritt den Raum von der einen Seite, seine Frau mit Maja auf dem Arm von der anderen Seite. Sie begrüßen sich kurz, die Frau setzt das dicke Baby auf dem Spielteppich ab. Für Herrn Diallo gibt es nun kein Halten mehr. Er wirft seine Körpermasse neben dem kleinen Mädchen auf den Boden. Die sieht ihn mit großen Augen und dicken Backen an und sabbert ein wenig auf den Teppich „NAAA, du kleiner Knutschkrapfen?! Hast du heute wieder deinen neuen Strampler angezogen? Den rosanen?“ Seine Stimme überschlägt sich. „Du stehst auf rosa, weil du bist meine kleine Prinzessinundprinzessinnenliiiebenrosa …!!!“
Die graublaue Anstaltshose ist ihm etwas zu klein und der Stoff hat auch schon bessere Zeiten gesehen. Sie rutscht ihm beständig über sein mächtiges Hinterteil, was den Blick auf die Feinrippunterwäsche freigibt, die hier an die Gefangenen ausgeteilt wird. Er wirkt plötzlich sehr verletzbar. Er bemerkt das und versucht zunächst noch, seine Garderobe mit einer Hand zu sortieren, während er mit der anderen dem Zwerg im rosa Strampler mit einem kleinen Teddy vor dem Gesicht herumwackelt. Nach einigen Minuten aber gibt es nur noch ihn und Maja.
Die Kleine wirkt ein wenig verwirrt, lässt die Bespaßung aber gerne über sich ergehen. Manchmal lacht sie, manchmal steht sie auf und watschelt unbeholfen im Zehengang zur Mama. Ein, zweimal quakt sie „Gaaadda!“ was natürlich als „Papa“ übersetzt und gefeiert wird. Die Zeit ist bald um. Ich habe, wie jedes Mal, versäumt, rechtzeitig auf die Uhr zu sehen, so dass die drei „aus Versehen“ eine Viertelstunde mehr Zeit zusammen hatten. Sobald Herr Diallo den Raum verlassen hat, laufen die Tränen. Jedes Mal.
Ich begleite ihn zurück zu seinem Gang. Dort ist gerade Aufschluss. Der Drogendealer aus der 36 kommt uns entgegen. „Bruder, was flennst du?“ Der Körperverletzer aus der 24 grätscht rein: „Halt die Fresse, Mann! Der hatte gerade Sonderbesuch mit der Kleinen.“ Herr Diallo biegt mit dem Körperverletzer in dessen Haftraum ein. Die zwei werden einen Kaffee zusammen trinken, eine rauchen und reden. Solidarität und Sozialkompetenz, wo man keine erwartet.
Kinder bringen eine Seite an den Inhaftierten hervor, nach der man in einer herkömmlichen Therapie lange graben müsste. Ich erinnere mich an einen Hells Angel, den ich vor einigen Jahren betreute. Ähnliche Statur wie Herr Diallo, aber von Kopf bis Fuß tätowiert, inklusive Gesicht. Er bekam von Seiten des Gerichtes weder Besuche noch Telefonate genehmigt. Ein sogenannter Hochsicherheitsgefangener. Lediglich Briefe waren gestattet.
Nachdem ihm die Ideen fehlten, was er seiner fünfjährigen Tochter regelmäßig schreiben sollte und er auch selbst kein begnadeter Zeichner war, einigten wir uns auf Ausmalbilder. Und bisweilen kam es zu absurden Szenen. Da brüllt dieser 160 Kilo schwere, volltätowierte Schwerverbrecher quer über den Gang „He, Frau Pisch, tschuldigung! Kann ich noch paar Prinzessin-Lillifee-Ausmalbilder?“ Ich muss grinsen. „Bring ich später. Eiskönigin auch?“ „Ja, bitte. Und mein Rosa is alle. Hätten Sie noch eins?“
In diesem Moment habe ich mir gewünscht, die Herrschaften vom Ministerium hätten das gesehen.
Bildquelle: Milad Fakurian, Unsplash