Vor mir sitzt Herr Neubert, 51, Polytoxler. Er lenkt sich gerne mit Malen ab – also biete ich ihm alle meine Buntstifte an. Ich hätte wissen müssen: Das war ein Fehler.
Junkies. Eine der unbeliebtesten Subgruppen im Gefängnis. In der Hierarchie ziemlich weit unten – sowohl bei den Gefangenen als auch bei den Angestellten. So gut wie immer in körperlich desolatem Zustand: verfaulte Zähne, fettige Haare, offene Beine, manchmal fehlen Finger. Häufig haben sie einen strengen Geruch und mindestens Hepatitis C.
Immer fordernd, weinerlich, unaufrichtig und manipulativ. Wechseln zwischen höflich, unterwürfig bis zu aggressiv anklagend in einer Mikrosekunde, wenn sie nicht bekommen, was sie haben wollen. Was sie haben wollen? Stoff: Pregabalin, Gaba, Pola, Meta. Zur Not dann wenigstens Lyrica®, Tavor® oder Zigaretten. Oder einen Kaffee. Wenn sie das nicht bekommen, dann halt irgendwas. Egal was. Sie haben Stressbälle? Brauch ich. Kugelschreiber? Brauch ich. Taschentücher? Ich nehm’ die ganze Box mit, wenn das okay ist?
Gerade eben habe ich in einer Sitzung einem 51-jährigen Polytoxler (nennen wir ihn Herr Neubert) Buntstifte angeboten, weil er erwähnte, dass er sich gerne mit Malen ablenkt. Der Dialog, der folgte, war typisch: „Wie viele darf ich denn nehmen?“ Ich lege eine halbvolle 50er Packung nagelneuer Buntstifte vor ihm auf den Tisch. „Nehmen Sie halt, soviel sie brauchen.“ Ich war unkonzentriert, sonst hätte ich so etwas nie zu ihm gesagt.
Die meisten Gefangenen nehmen drei oder vier. Nicht Herr Neubert. Seine Augen werden groß wie die eines gierigen Kindes, das mit der spendablen Oma am Eiswagen steht. Mit spitzen, nikotingelben Fingern zieht Herr Neubert einen Buntstift nach dem anderen aus der Verpackung. „Die noch.“ – „Und rot.“ – „Und die noch.“… nach einigen Minuten ist die Packung leer und über 20 Stifte liegen vor ihm auf dem Tisch. Er lächelt zufrieden.
„Brauchen Sie wirklich dreimal Weiß?“ Resignation schwingt in meinen Worten mit. Gehorsam, aber etwas traurig steckt er zwei der drei weißen Buntstifte zurück in die Packung. „Und zweimal Blau, dreimal Orange und vier verschiedene Rottöne?“ Er senkt den Blick. Plötzlich bekomme ich die Gegenübertragung einer strengen Mutter, die ihren Sohn ausschimpft. Unangenehm.
„Ich brauch’ keine doppelten Farben. Die kann ja wer anders noch bekommen. Nehmen Sie die einfach wieder raus“, nuschelt er kaum hörbar in die Tischplatte hinein. Meine Stimmung wechselt von genervt zu mitleidig. Ich bin unsicher. Ist das eine bewusste Manipulation? Eine unbewusste? Oder einfach eine Strategie, mit der er in letzter Zeit gut durchs Leben gekommen ist? Erst horten, was zu holen ist – und wenn die Gier aufgeflogen ist, Reue und Demut zeigen?
Bei all den Überlegungen darf man eines nicht vergessen: Herr Neubert hat sich, wie viele andere Süchtige, die letzten zwei Jahre auf der Straße behaupten müssen. Das ist kein Kindergeburtstag.
Du schleppst alles, was du besitzt, in vier großen IKEA-Tüten durch die Gegend. Ständig auf der Suche nach einem Schlafplatz, der ein klein wenig Schutz verheißt. Schutz vor tödlicher Kälte, Schutz vor den anderen Obdachlosen, die dich für eine Packung Zigaretten abstechen würden. Man kann schon in einer „Teestube“ oder einer anderen Obdachlosenunterkunft unterkommen, gemeinsam mit all den anderen „Suchtlern“. Denn nüchtern bleiben die wenigsten auf der Straße – das erträgt man schlicht nicht.
In den Unterkünften aber ist Streit und Gewalt an der Tagesordnung. Frauen – manchmal auch Männer – werden vergewaltigt, Hab und Gut wird geklaut und ständig ist Stress. Dann lieber draußen in Frieden unter einer Brücke, im Eingangsbereich eines Kaufhauses oder auf einer Parkbank. Mit entsprechendem Pegel geht die Nacht schon rum. Aber für den Pegel braucht es Geld. Anfangs kommt man mit Prostitution noch weiter. Aber mit zunehmendem körperlichem Verfall des Anbieters sinkt der monetäre Wert der sexuellen Dienstleistung auf ein unerträglich lächerliches Almosen.
Klauen geht dann noch. Und betteln. Passanten anbetteln, andere Junkies anschnorren. Nehmen, was man kriegen kann. Das ist die letzte Überlebensstrategie, tief eingebrannt in die neuronalen Bahnen. So selbstverständlich wie Sie und ich sich vor einem lauten Geräusch erschrecken. Ein Reflex. Es „passiert“, man tut es nicht bewusst.
Andererseits: Mache ich jetzt gerade wirklich ein Fass auf, wegen ein paar Buntstiften, die ich noch nicht mal aus eigener Tasche bezahlt habe?Wieder andererseits: Warum alle? Wer nimmt denn alle? Was soll das? „Weiß“ konnte eh noch nie jemand brauchen. Und dann alle drei? Warum immer alles horten?
Ganz einfach: Auf der Straße hast du keine Zeit zu überlegen, ob du etwas „brauchst“. Wenn du es kriegen kannst, nimmst du es – bevor es jemand anders tut. Vielleicht kannst du es tauschen, vielleicht brauchst du es später. Du kannst es dir nicht kaufen, wenn du es brauchst. In dem Moment, in dem du etwas „brauchst“, solltest du es bereits haben. Überleben ist wichtiger als Höflichkeit.
Sucht und Obdachlosigkeit sind selbstverständlich zwei unterschiedliche Probleme. Aber sie gehen oft einher. Und das Verhalten, welches wir als „gierig“, „unaufrichtig“ und teilweise sogar „ehrlos“ bewerten, verstärkt sich zwischen diesen zwei Problemen wie die Rückkopplung einer E-Gitarre, die vor einen Röhrenverstärker gehalten wird.
Auch mich strengen Süchtige an. Ich ertappe mich oft dabei, wie ich die entsprechenden Antragsscheine immer weiter prokrastiniere und andere Patienten vorziehe. Es gibt einen Grund, warum Psychotherapeuten keine Therapie mit einem Substanzabhängigen beginnen, solange dieser keine abgeschlossene Drogen- bzw. Alkoholtherapie vorweisen kann: Diese Patienten sind im Grunde nicht absprachefähig. Ihr Fokus ist dermaßen verschoben, dass kaum etwas anderes tiefe Relevanz gewinnen kann außer der Substanz. Ihr zerebrales Belohnungssystem ist dermaßen zerbombt, dass sie es ein Leben lang nur schwer schaffen werden, eine ernsthafte Motivation für Dinge aufzubringen, die nicht unmittelbar auf ihr Dopaminsystem wirken.
Im Grunde arbeiten fast alle Drogen mit dem Dopaminsystem. Entweder durch direkte Ausschüttung in den synaptischen Spalt (Amphetamin) oder indem sie die Sensibilität der Rezeptoren verstärken (Kokain) oder aber verhindern, dass das Dopamin wieder von den Rezeptoren verdrängt wird. Das Problem ist, dass diese Wirkung das körperlich größte euphorische Gefühl ist, das hervorgerufen werden kann. Etwas sehr Totales.
Sie alle kennen sicher den Versuch mit Ratten, welche selbstständig ihr Dopaminsystem durch Gehirnelektroden stimulieren können. Der Nucleus accumbens reagiert äußerst sensibel auf Dopamin. Gemeinsam mit dem Hypothalamus könnte man von einer Art Orgasmusschmiede sprechen. Nur, dass das Ganze beliebig häufig reproduzierbar ist und keinerlei Vorspiel und Rotwein braucht. Hochgefühl auf Knopfdruck. Die Tiere verenden nach kürzester Zeit, weil sie einfach ALLES einstellen, was nicht mit dieser Stimulation zu tun hat. Fressen, trinken, schlafen, fortpflanzen – all das wird uninteressant. Es zählt nur noch der Knopf, der die Elektrode stimuliert.
Bei einem süchtigen Menschen muss man also durch eine dicke Wand, um ihn kommunikativ zu erreichen. Im Gegensatz zu den Ratten im Experiment können Menschen lernen, mit der Sucht umzugehen, aber das Gehirn wird sich immer erinnern – man spricht vom sogenannten „Suchtgedächtnis“. Das bringt uns zu der Frage, ob ein Süchtiger nun krank, verhaltensgestört oder einfach nur undiszipliniert ist. Medizinisch wurde diese Frage längst geklärt, aber in den Köpfen der Gesunden ist die Sucht noch immer eine Krankheit zweiter Klasse. Etwas, das man selbst verhindern oder abstellen könnte. Etwas, das man sich ausgesucht hat.
Auch in den Köpfen vieler Fachkräfte wuchert dieser Gedanke noch immer wie ein altertümliches Geschwür. Sogar nicht wenige unserer Ärzte, viele Pfleger, der überwiegende Teil des AVD (Beamten des Allgemeinen Vollzugsdienstes) und auch der ein oder andere Psychologe sind der Meinung, Sucht sei im Grunde eine ausgeprägte Form der Willensschwäche. Ein Charakterfehler, wenn man es überspitzen möchte.
Ich wiederhole nochmal: Auch mich strengen Süchtige an. Es macht keinen Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Aber ein bisschen weniger hohes Ross würde uns allen in dieser Diskussion gut zu Gesicht stehen. Und Dankbarkeit. Für das, was wir nicht haben: Suchtdruck, den nächtlichen Kampf um den Schlafplatz, Angst, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Und: Angst davor, am nächsten Morgen doch wieder aufzuwachen.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney