Als Hausarzt hat man es nicht nur mit verschiedensten Organpathologien zu tun – sondern auch mit den Schicksalen der Menschen dahinter. Ein Tag, ein Organ, vier Fälle.
In unserer Hausarztpraxis sehen wir einige hundert Patienten am Tag. Dabei spielen auffällige Leberwerte oft eine Rolle. Ein Tag rund um die Leber in meiner Hausarztpraxis.
Der erste Patient, 60 Jahre alt, stellt sich mit linksseitigen Unterbauchschmerzen seit zwei Tagen vor. Er hat kein Fieber, keinen Durchfall, aber einen klar lokalisierbaren Druckschmerz im linken Unterbauch. Die letzte Koloskopie hatte er eigenanamnestisch vor 3 Jahren, ohne Nachweis von Divertikeln. Letzter Stuhlgang heute Morgen war braun und geformt, der Patient zeigt nach eigenen Angaben keine Obstipationsneigung. Palpation: keine Abwehrspannung, Peristaltik ubiquitär vorhanden und Murphy/ Mcburney negativ. In der Sonografie zeigt sich eine Sigmadivertikulitis mit gedeckter Perforation und einem 11 mm großen Abszess. Der Blick zur Leber: Unauffällig, homogenes Parenchym, keine fokalen Läsionen, kein Abszess, Gallenblase sowie -wege regelrecht, hier auch keine Konkremente sichtbar. Auch Milz, Aorta, Vena cava und Nieren: ohne pathologischen Befund.
Laborwerte:
Leukozyten: 11,6 Gpt/l (↑)
CRP: 6,7 mg/dl (↑)
GOT (AST): 22 U/l
GPT (ALT): 26 U/l
GGT: 26 U/l
Kreatinin: 1,4 mg/dl
GFR: 55 ml/min/1,73m²
Einige Werte sind leicht auffällig, transaminasetechnisch aber völlig unspektakulär – was in diesem Fall entscheidend ist. Die Leber war Teil der Differenzialdiagnose zur Abszesssuche – aber: Entwarnung.
Gemeinsam wird ein ambulanter Therapieversuch vereinbart, mit Hochdosis-Amoxicillin/Clavulansäure, Macrogol zur Stuhlregulation und eine Kontrolle morgen in der Praxis. Bei Symptombesserung Kostaufbau zum Wochenende, bei Verschlechterung sofort in die Klinik.
Eine 57-jährige Patientin ist erneut in der Praxis diese Woche – bekannte COPD, aktuell in krisenhafter Verfassung, sie gab beim letzten Besuch an, wieder vermehrt Panikattacken zu haben. Ihr Onkel sei kürzlich gestorben und sie fürchte einen Infekt. Zum Psychiater wolle sie aber auch nicht: „Der guckt mich doch nur an.“ Der Kollege notierte: mal Promethazin probieren, Perspektive mal Psychatrie; mit Patientin noch zu besprechen. Beim zweiten Besuch gibt sie an, „überall Schmerzen und Muskelkrämpfe“ zu haben. Ich nehme Blut. Sie habe überall blaue Flecken und Schmerzen in den Beinen. Ich überweise sie in die Angiologie wegen Verdacht auf chronisch Venöse Insuffizienz.
GOT (AST): 31 U/l
GPT (ALT): 36 U/l (↑)
GGT: 65 U/l (↑)
Cholesterin gesamt: 210 mg/dl (↑)
LDL: 139 mg/dl
Triglyzeride: 118 mg/dl
Kreatinin: 0,9 mg/dl
GFR: 75 ml/min
TSH: 0,78 mIU/l
Parathormon: 22,1 pg/ml
Calcitriol: <1,9 pg/ml (↓)
Die Leberwerte sind leicht erhöht, besonders die GGT – ein unspezifischer Marker, aber häufig durch Medikamente oder Alkohol beeinflusst. Am Telefon werden ihr die Ergebnisse von einer MFA-Kollegin mitgeteilt. Für die Patientin sind die Leberwerte hoch relevant – für mich nur Teil einer Vielzahl an Puzzlestücken. Kommunikation ist hier das A und O. Die Patientin fühlt sich nicht ernst genommen. Ich werde wohl erneut das Gespräch suchen.
Ein schwerstpflegebedürftiger 36-jähriger Patient mit spastischer Zerebralparese und multiplen Komorbiditäten ist mein nächstes Gespräch. Er befindet sich in häuslicher Pflege. Seit 2009 ist er Patient in unserer Praxis. Die Vorstellung hier findet fixiert im Rollstuhl statt. Kommunikation mit dem Patienten selbst ist nicht möglich, das Gespräch erfolgt über die Mutter. Diese berichtet über Übelkeit und Appetitlosigkeit bei ihrem Sohn. Bei Erstvorstellung wurde er aus der Uniklinik entlassen bei Z. n. komplizierter Cholezystektomie mit Pankreatitis und thorakalen Abszedierungen, Peritionitis, Pneumonie, Anlage Laparostoma und Duodenalsonde. Leberwerte damals GOT: 249 U/l (↑↑↑); GPT: 238 U/l (↑↑↑); GGT: 141 U/l (↑↑); AP: 279 U/l (↑↑↑).
Im Verlauf kam es zu einer Stabilisierung von Werten (und des Patienten), z.B. 2019: GOT: 18 U/l; GPT: 12 U/l; GGT: 50 U/l.
Die Mutter beschreibt Übelkeit des Sohnes, bisher kaum Appetit, das Trinken klappt, kein Durchfall. Schmerzen sind schwer beurteilbar, liegen eher nicht vor nach ihrer Aussage. Sie selbst hatte vor 2 Wochen einen Magen-Darm-Infekt. Da schon lange keine Blutentnahme mehr erfolgt sei, könne doch heute wieder eine erfolgen? Ich untersuche den jungen Mann: Klinisch, soweit beurteilbar bei extrem erschwerten Untersuchungsbedingungen, eher orientierend unauffällig. Wir nehmen also Blut.
Laborwerte aktuell:
GOT (AST): 44 U/l
GPT (ALT): 137 U/l (↑↑)
GGT: 364 U/l (↑↑↑)
AP: 323 U/l (↑↑)
Bilirubin gesamt: 0,6 mg/dl
Der starke Anstieg heute wirft Fragen auf. Die Leberwerte waren im Februar 2023 schon einmal ähnlich erhöht, damals wurde der Grund in der antikonvulsiven Therapie gesehen und hatten sich wieder normalisiert nach Therapieanpassung. Dieses mal wurde Paracetamol wegen Hüftschmerzen über längere Zeit eingenommen, es besteht außerdem der Verdacht auf einen Infekt im Hintergrund. Eine stationäre Aufnahme soll dem Patienten nicht zugemutet werden – die gewissenhafte Mutter beobachtet engmaschig, der Neurologe wird wegen der aktuellen Medikation konsultiert.
Ich empfehle eine Kontrolle der Werte in vier Wochen, bis dahin soll die Mutter den Patienten beobachten und Auffälligkeiten wie Schmerzen und Fieber jederzeit melden. Die Praxis zeigt hier, was ambulante Medizin leisten kann: Abwägen, Verantwortung teilen, individuelle Lösungen schaffen – ohne den Patienten unnötigen Belastungen auszusetzen.
Die letzte Patientin des Tages ist 31 Jahre alt, alkoholkrank, lebt im Obdachlosenheim, kürzlich stationär aufgenommen wegen C2-Intoxikation mit hepatischer Enzephalopathie, Varizen, Anämie, schweren Ödemen. Jetzt wieder draußen – mit starken Schmerzen, massiver Leberpathologie und heftiger Ablehnung jeglicher Hilfe.
Vorliegende Diagnosen aus der Klinik:
Ösophagusvarizen Grad I
Hepatische Enzephalopathie
Schwere Elektrolytentgleisung
Alkoholtoxische Anämie
Hypoproteinämie
Klinik-Ikterus
Sie ist disziplinarisch entlassen worden, weil dauernd abwesend von Station und dann auch getrunken. Kurioserweise wurde bei klinischem Ikterus nie der Bilirubinwert bestimmt. Jetzt beklagt sie massive Schmerzen in den Beinen.
Klinische Einschätzung:
Sklerenikterus
Hepatische Enzephalopathie °II-III
Massive Beinödeme bis zur Leiste
Kein Aszites
Die Leber ist klinisch vollständig dekompensiert. Ich erkläre der Patientin sehr deutlich, dass sie mehr tot als lebendig ist. Wenn sie weiter trinkt, wird sie kurzfristig versterben. Eine Aufnahme mit Entgiftung, Entzug, Ernährungsaufbau wäre der letzte Strohhalm – doch sie lehnt ab.
Stattdessen: Wunsch nach Benzos – ein absolutes No-Go bei fortgeschrittener Leberinsuffizienz. Ich verordne: Metamizol gegen die Schmerzen, Spironolacton für die Ödeme. Für die Enzephalopathie Lactulose und Omeprazol. Die Einweisung wird mitgegeben, aber ohne Illusion. Dieser Fall zeigt, wie brutal die Realität sein kann – und wie begrenzt manchmal der ärztliche Einfluss.
Ob mit erhöhter GGT im Schatten psychischer Belastung, mit Transaminasenanstieg bei Polytherapie oder mit Gammaglutamyltransferase im dreistelligen Bereich bei Alkoholabhängigkeit – die Leber meldet sich oft nicht laut, aber immer deutlich. An diesem Tag zeigt sie sich in all ihren Facetten: als Ausschlussdiagnose, als Frühwarnsystem, als zentrales Organ am Rand des Zusammenbruchs. Und immer als Teil eines großen Ganzen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney