Kortikale Blindheit scheint vor der Entstehung einer Schizophrenie zu schützen. Warum das so ist und wie dieses Wissen bei der Therapieentwicklung helfen kann.
Schizophrenie gilt als eine schwerwiegende psychische Erkrankung und betrifft 24 Millionen Menschen weltweit. Sie beginnt meist im jungen Erwachsenenalter und verändert das Denken, Fühlen und Verhalten der Betroffenen massiv. Doch trotz jahrzehntelanger Forschung sind die Ursachen der Erkrankung noch weitestgehend unverstanden. Eine neue Erkenntnis zu möglichen Schutzfaktoren bei Schizophrenie und anderen psychotische Erkrankungen kommt von einer Gruppe von Menschen, die selbst mit schweren Einschränkungen leben müssen: Kinder, die von Geburt an blind sind.
Ein australisches Forscherteam wertete Daten von 467.945 Kindern aus einem umfassenden australischen Gesundheitsregister aus. Das überraschende Ergebnis: Keines der Kinder mit sogenannter kortikaler Blindheit – eine Form der Blindheit, die durch eine Schädigung der Sehrinde im Gehirn bei intakten Augen entsteht – entwickelte im späteren Leben eine Schizophrenie oder eine andere psychotische Erkrankung. Kein einziges. Zum Vergleich: In der Gesamtgruppe entwickelten fast zwei Prozent der Kinder eine Schizophrenie oder eine andere psychotische Erkrankung. Kinder mit peripherer Blindheit – verursacht durch Störungen im Auge selbst – zeigten vereinzelnd psychotische Symptome, auch wenn das Risiko insgesamt ebenfalls niedriger war als in der allgemeinen Bevölkerung.
Die Studienautoren und andere Experten sehen mögliche Erklärungen im Bereich der Neuroplastizität: Das Gehirn von Menschen mit kortikaler Blindheit ist häufig anders strukturiert. Um das fehlende Sehvermögen auszugleichen, reorganisiert sich das Gehirn und verarbeitet andere Sinneseindrücke wie Geräusche oder taktile Reize besonders effizient.
Diese neurobiologischen Veränderungen passieren genau dort, wo bei Schizophrenie charakteristische Defizite auftreten – etwa in der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, der Sprachverarbeitung und der Integration sensorischer Reize. Früh einsetzende Blindheit zwingt das Gehirn zu einer kognitiven Umstrukturierung, die möglicherweise einen schützenden Effekt gegenüber psychotischen Erkrankungen hat.
Trotz der beeindruckenden Ergebnisse mahnen die Forscher zur Zurückhaltung. Die Zahl der Menschen mit kortikaler Blindheit in der Studie war mit 66 Kindern klein, wenn auch deutlich größer als bei früheren Studien. Zudem ist es möglich, dass Studienteilnehmende nach dem Ende der Studie psychotische Erkrankungen entwickelten, die nicht erfasst wurden. Die Datenbank erfasste außerdem nur Krankenhausaufenthalte, nicht aber Diagnosen durch niedergelassene Ärzte.
Trotz dieser Einschränkungen liefern die Daten einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Ursachen psychotischer Erkrankungen. Sie bestätigen frühere Fallberichte und Hypothesen, die aufgrund fehlender Bevölkerungsdaten lange als spekulativ galten. Was bleibt, ist der Forschungsauftrag, die genauen Mechanismen zu verstehen, durch die dieser Schutz entsteht – und herauszufinden, ob und wie man diese gezielt fördern kann. Denn die Hoffnung ist groß, dass sich aus dieser Erkenntnis neue wirksame Strategien zur Vorbeugung und Behandlung von Schizophrenie und anderen psychotischen Erkrankungen ableiten lassen. Vielleicht könnte es in Zukunft gezielte kognitive oder sensorische Trainingsprogramme geben, die eine ähnliche „schützende“ Hirnveränderungen anstoßen – auch ohne Blindheit.
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