Heilkundlich handeln, ohne dabei mit einem Bein im Gefängnis zu stehen, das regelt der § 2a NotSanG. Kritiker sehen das anders – und sprechen Notfallsanitätern Kompetenzen ab. Warum ich mich dagegen wehre.
Kaum neue Rechtsklarheit für Notfallsanitäter durch den § 2a NotSanG: Stattdessen stellt die Einführung des Paragraphen lediglich eine Kodifizierung der bestehenden Rechtslage dar und bewirke keine wesentliche Erweiterung der Handlungskompetenzen von Notfallsanitätern – so das Urteil der Autoren Léon Bogner, Dr. Moritz Lochmann und Dr. Lukas Zeyher behaupten in medstra. Zudem sei die juristische Wirkung des VGH-Beschlusses vom 21. April 2021 überbewertet worden. Ihre Quintessenz: Vorsicht, keine neuen Kompetenzen, alles wie gehabt – bitte weitergehen.
„Von der Einführung des § 2a NotSanG ist […] weder eine wesentliche Veränderung im Berufsalltag noch ein Mehr an Rechtssicherheit zu erwarten.“
Für mich als Notfallsanitäter, der täglich Verantwortung für Menschenleben trägt, ist dieser Beitrag nicht nur ein Schlag ins Gesicht, sondern auch eine gefährliche Verharmlosung struktureller Probleme. Wer wie die Autoren unter dem Deckmantel juristischer Präzision das Fundament unserer Profession in Zweifel zieht, gefährdet nicht nur Rechtssicherheit – sondern auch Patientensicherheit.
Beginnen wir mit einer irritierenden Tatsache: Einer der Autoren, Dr. Moritz Lochmann, ist selbst Notfallsanitäter. Und ein weiterer, Léon Bogner, ist dazu Mit-Inhaber einer Rettungsdienstschule. Beide bringen also nicht nur juristische, sondern auch berufsinterne Perspektiven mit – eigentlich eine gute Voraussetzung für eine ausgewogene Analyse.
Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Der Beitrag spricht Notfallsanitätern implizit die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Entscheidungsfindung ab. Mehr noch: Er stilisiert § 2a NotSanG zu einer Art juristischem Beruhigungsmittel, das keine echten Befugnisse mit sich bringe. Dass dabei der Umstand ausgeblendet wird, dass Notfallsanitäter in der Ausbildung auf genau diese Situationen vorbereitet werden – mit bundesweit normierten Lernzielen, Prüfungen und praktischer Kompetenz – ist ein fatales Signal an die Berufsgruppe.
Was noch schwerer wiegt: Es wird suggeriert, dass wir „eigentlich“ nichts Neues dürfen. Dass unsere neue Kompetenz nur ein anderes Etikett für den alten Notstand sei. Dabei ist der Unterschied zwischen einer rechtfertigenden Einzelfalllösung (§ 34 StGB) und einer positiven gesetzgeberischen Ermächtigung (§ 2a NotSanG) juristisch fundamental. Nur Letztere schafft echte Rechtssicherheit – und das ist kein Nebenaspekt, sondern der Kern des Problems, das wir Notfallsanitäter über Jahre hinweg erlebt haben.
Der Beitrag behauptet, dass § 2a NotSanG lediglich eine systematische Verlagerung bereits bestehender (de-facto-)Befugnisse sei:
„§ 2a NotSanG ist dennoch im Wesentlichen deckungsgleich mit § 34 StGB. […] In der Sache gibt es […] keine wesentlichen Unterschiede zur alten Rechtslage.“
Das ist eine aus meiner Sicht unzulässige Verengung. Was § 2a tatsächlich bietet, ist ein klarer, gesetzlich definierter Handlungsrahmen, innerhalb dessen Notfallsanitäter invasiv tätig werden dürfen – ohne dass die Strafbarkeit nach § 5 HeilprG im Raum steht, und ohne den juristischen Zwang, sich im Nachhinein auf einen Notstand zu berufen, der im Zweifel gerichtlich anders bewertet wird.
Diese Unterscheidung ist alles andere als akademisch: Sie macht den Unterschied zwischen ex-ante-Verantwortung und ex-post-Rechtfertigung. Sie entscheidet darüber, ob ich als Behandler mit einem Bein im Knast stehe oder auf einer stabilen gesetzlichen Grundlage handle. Die Autoren aber verharmlosen diese Differenz und leiten daraus fälschlicherweise ab, § 2a sei „systematisch falsch eingeordnet“. Das Gegenteil ist richtig: Endlich ist heilkundliches Handeln positiv erlaubt – unter klaren Voraussetzungen.
Der Artikel attackiert auch den Beschluss des VGH München vom 21.4.2021. Die Entscheidung wird als prozessual überdehnt, inhaltlich irrelevant und letztlich als „falsch verstanden“ dargestellt.
„Zu Unrecht werden insbesondere die Ausführungen des VGH München in der Praxis als Freibrief für Notfallsanitäter aufgefasst […].“
Was die Autoren jedoch verschweigen: Der Beschluss war nicht nur eine juristische Reaktion auf einen Einzelfall, sondern ein Weckruf für die Praxis. Der VGH hat mit bemerkenswerter Klarheit festgestellt, dass Notfallsanitäter nicht bloße Ausführungsgehilfen ärztlicher Anordnungen sind, sondern innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen eigenverantwortlich handeln dürfen. Das Urteil hat zu Recht breite Aufmerksamkeit erlangt, weil es einen Paradigmenwechsel markiert – nicht wegen seiner angeblichen methodischen Schwächen.
Diese juristische Realität versucht der Aufsatz klein zu reden, zu relativieren und letztlich zu entmachten. Mit dem Hinweis, dass § 2a im fraglichen Fall noch gar nicht galt, wird dabei ein formales Argument gegen ein inhaltlich bedeutsames Signal in Stellung gebracht: eine Nebelkerze.
Besonders problematisch wird der Beitrag dort, wo er die tatsächliche Realität im Rettungsdienst ausblendet. Wer im sicheren Abstand von Gesetzestexten und Kommentaren aus dem juristischen Elfenbeinturm heraus argumentiert, mag über „Delegationsrahmen“ und „Indikation“ fabulieren. Vor Ort – auf der Straße, im Wohnzimmer, im Treppenhaus – entscheidet oft Sekundenbruchteile, ob ein Patient überlebt. In diesen Momenten brauchen Notfallsanitäter keine juristische Übergriffigkeit:
„Die Einführung der Heilkundebefugnis für Notfallsanitäter führt im Ergebnis zu einem erhöhten Haftungsrisiko […].“
Stattdessen wird im Beitrag der Eindruck erweckt, als seien wir ohne Notarzt an unserer Seite bestenfalls ein Risiko. Dabei ist längst Realität, dass Notfallsanitäter in vielen Regionen die Erstanlaufstelle sind – in wachsender Zahl von Fällen, ohne dass ärztliche Hilfe rechtzeitig verfügbar wäre. Die Vorstellung, dass wir in solchen Situationen zuerst ein juristisches Prüfungsschema abarbeiten müssten, bevor wir handeln dürfen, ist nicht nur absurd, sondern zynisch. Dazu konstatierte bereits der Bundesrat in seiner Drucksache 562/20:
[…] § 4 Absatz 1 Nummer 2 Buchstabe c NotSanG betrifft gerade keine lebensrettenden Maßnahmen. Heilkundliche Maßnahmen, für die entlang eines definierten Logarithmus standardmäßig eine Delegation vorab ausgesprochen wird, die also weiterhin heilkundlich vom Arzt selbst zu verantworten sind, sind in der Regel „einfache Maßnahmen“, die in keiner Weise mit Notstandsmaßnahmen zu vergleichen sind und auch keinerlei fließenden Übergang zu diesen haben. Notstandsmaßnahmen eignen sich aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität gerade nicht für eine standardmäßige Delegation. […] .
Was also bleibt vom Beitrag? Eine Reihe juristischer Argumente, die das alte Misstrauen gegenüber eigenständigem heilkundlichem Handeln von Notfallsanitätern reproduzieren. Eine dogmatisch verkleidete Herabsetzung beruflicher Realität. Und ein fast schon ideologisch anmutender Versuch, dem § 2a NotSanG die Bedeutung zu entziehen, die er faktisch und symbolisch längst gewonnen hat.
Warum? Man kann nur spekulieren. Vielleicht ist es die Nähe einzelner Autoren zu Strukturen, die noch immer ein paternalistisches Modell favorisieren. Vielleicht ist es das Bedürfnis, Kontrolle zu behalten – und damit den eigenen Einfluss zu wahren. Vielleicht ist es aber auch schlicht das Unvermögen, anzuerkennen, dass sich die Notfallrettung verändert hat. Und verändern musste.
Wer uns Notfallsanitätern die Fähigkeit abspricht, erlernte und beherrschte Maßnahmen sicher und verantwortungsvoll durchzuführen, sollte sich fragen, warum er gleichzeitig kein Problem damit hat, dass wir genau diese Maßnahmen in lebensbedrohlichen Situationen unter Stress und Haftungsdruck „notfalls“ trotzdem anwenden dürfen – aber dann eben nur als Notstandslösung. Diese Haltung ist nicht nur inkonsequent, sondern respektlos gegenüber einem unverzichtbaren Berufsstand, der sich professionalisiert hat und geprüfte Kompetenzen mitbringt.
Es bleibt dabei: § 2a NotSanG ist keine kosmetische Änderung. Er ist ein rechtlicher Fortschritt, ein Ausdruck von Vertrauen sowie ein Baustein moderner präklinischer Versorgung. Die Versuche, diesen Fortschritt wegzudiskutieren, führen uns zurück in Zeiten der Rechtsunsicherheit und des Generalverdachts.
Dagegen wehre ich mich – im Interesse meiner Kolleginnen und Kollegen. Und im Interesse der Menschen, die auf uns zählen.
Bildquelle: Ben Sweet, Unsplash