Gewaltenteilung im Gefängnis – ein Ideal, das an der Realität zerbricht. Zwischen Bürokratie, Frust und fragwürdigen Maßnahmen verlieren Delikt und Bestrafung oft den Zusammenhang. Warum das psychologisch fragwürdig ist.
Gewaltenteilung: Unabdingbar in einer Demokratie. Judikative, Exekutive, Legislative. Jede Aufgabe wird von einer Person oder einem Organ übernommen. Einer kann nicht zwei Aufgaben übernehmen. Eigentlich ganz simpel.
In jeder durchschnittlichen Familie herrscht aber eine Diktatur. Vater und Mutter machen die Regeln, sorgen dafür, dass sie durchgesetzt werden und verhängen und vollziehen die Strafen bei Verstößen. In sämtlichen therapeutischen und pädagogischen Kontexten ist dies ähnlich: Die Leitung macht die Regeln – und legt gleichzeitig die Strafen fest. Die Angestellten sorgen dafür, dass die Regeln eingehalten werden und führen die Bestrafung bei Regelbruch durch.
Das Gefängnis stellt hier eine Mischform dar. Wir schreiben uns einerseits groß auf die Fahnen, dass die Grundlagen der Demokratie auch intramural gelten. Gewaltenteilung. Für jeden Verstoß (z.B. das Urinieren gegen einen Baum während des Hofgangs) innerhalb der Haft wird eine ordentliche Anhörung vor einem Juristen anberaumt, der dann die Strafe festsetzt (z.B. einen Monat Einkaufssperre), die wiederum vom AvD vollstreckt wird.
Jetzt haben wir aber andererseits auch so eine Art therapeutisch-pädagogischen Anspruch – schließlich steht im Gesetz, dass die Haft neben dem Schutz der Allgemeinheit der Resozialisierung dienen soll. Unser demokratisches Grundprinzip der Gewaltenteilung in Kombination mit dem deutschen Behördentum ist allerdings wiederum der Tod eines jeden therapeutischen Ansatzes.
Damit das menschliche Gehirn Ursache und Wirkung treffsicher verknüpft, ist laut den Prinzipien der klassischen Konditionierung eine zeitliche Nähe dieser beiden Faktoren unabdingbar. Sicher, der Mensch ist ein kognitives Wesen und kann gewisse kausale Verknüpfungen auch noch über einen längeren Zeitraum hinweg herstellen. Im therapeutischen Setting hat sich allerdings eine zeitliche, personelle und kausale Nähe von Regelbruch und Strafe klar bewährt. Also wenn Heinrich in der therapeutischen Wohngruppe aus lauter Zorn Gudruns Tasse gegen die Wand wirft, so sollte er sich zeitnah entschuldigen, die Tasse ersetzen und vielleicht direkt noch eine Woche lang Gudruns Küchendienst übernehmen.
Bei uns sieht das eher so aus, dass ein Gefangener, sagen wir Herr Kohlhammer, einer weiblichen Bediensteten, nennen wir sie Frau Celik, an die Brüste gefasst hat und ihr mit uncharmanten Worten mitgeteilt hat, dass er sich sexuelle Interaktion von ihr erhoffe. Frau Celik schubst ihn von sich weg, Kollegen eilen zu Hilfe, Herr Kohlhammer wird unter Verschluss genommen (vorübergehend in seinen Haftraum gesperrt).
Damit endet die unmittelbare Handlungskompetenz von Frau Celik, denn die Gefahr ist abgewendet. Noch vor zehn bis fünfzehn Jahren hätte sich Herr Kohlhammer durch Frau Celiks Kollegen eine ordentliche Abreibung in Form von guter alter körperlicher Gewalt eingehandelt. Gesetzlich verboten, auch damals schon, aber rein von den Grundsätzen der klassischen Konditionierung her betrachtet ein sinnvolles Konzept. Aktion-Reaktion.
Zeitlicher, räumlicher und personeller Kausalzusammenhang – als Konzept leider schwer kontrollierbar und moralisch fragwürdig. Die Zeiten haben sich zum Glück geändert. Das Personal wird geschult und sensibilisiert, außerdem hängen überall auf den Gängen hochauflösende Kameras. Frau Celik schreibt also ein sogenanntes „VG52“ – eine Meldung, die dann an die Juristen weitergeleitet wird und falls sie als „disziplinarwürdig“ erachtet wird zu einer Disziplinaranhörung des Gefangenen führt.
Nach mehreren Tagen bis Wochen wird Herr Kohlhammer also der Juristin vorgeführt. Herr Kohlhammer ist ein schwer dissozialer Gewalt- und Sexualstraftäter mit starken narzisstischen Anteilen, der sich nach seiner Attacke schon gefreut hat, dass ihm außer ein paar Stunden Einschluss nicht mehr passiert ist. So völlig unbehelligt hat er dann am nächsten und übernächsten Tag noch einen draufgesetzt, der Sozialarbeiterin an den Hintern gefasst und Frau Celiks Kollegen das Tablett mitsamt dem verkochten Eintopf, den es zu Mittag gab, ins Gesicht geschleudert.
Nun, fünf Tage später, sitzt er bei der Juristin im Rapport und soll sich verteidigen. Frau Celik hat heute frei, die Sozialarbeiterin will ihn nicht mehr sehen und der Kollege, der den Eintopf abbekommen hat, hat Nachtdienst – ist also auch nicht anwesend. Das mit dem Essen stimme schon, aber „den Fraß kann man doch niemandem vorsetzen.“ An den Hintern gefasst habe er der „Sozialtante“ vielleicht wirklich, aber wenn, dann sei das ein Versehen gewesen.
Seine Hand habe sie da berührt, weil er nicht aufgepasst habe und das mit der Celik stimme mal gar nicht. Das hätte die vielleicht gern – er habe eh schon länger das Gefühl, dass die scharf auf ihn sei. Höre man ja immer wieder, dass sich die Bediensteten in Gefangene verlieben und Frauen würden hier eh nicht hergehören. Die junge Juristin hebt irritiert die Augenbrauen und ist kurz der Worte beraubt. „Ich bin auch eine Frau“ versucht sie ihn mit spitzem Ton aus der Reserve zu locken. „Das ist ja was anderes, sie arbeiten ja nicht. Also nicht richtig. Also schon, aber bei den Anzugträgern und nicht bei den Gefangenen, sie verstehen schon, was ich meine.“
Sie versteht genau, was er meint. Da ein tätlicher Angriff gegen Bedienstete im Spiel ist, gibt es Arrest. 14 Tage. Bedeutet: 14 Tage in einem Einzelhaftraum ohne Fernseher, Bücher, Ablenkung. Keine Termine bei Psychologen, Sozialdienst, Kirche oder Ähnliches. Keine sozialen Kontakte, eine Stunde Einzelhofgang am Tag, dreimal die Woche Einzelduschen. Leider sind derzeit alle Arresthafträume belegt. Herr Kohlhammer wird seine Strafe frühestens in vier Wochen antreten können. Bis dahin wird er weitere Diszis gesammelt haben, weil er Tabletten gebunkert, ein Handy im Haftraum versteckt und im Hof mit einem anderen Gefangenen in eine tätliche Auseinandersetzung geraten ist. Insgesamt sind bis zur Vollstreckung dann acht Wochen Arrest aufgelaufen, die in mehreren Teilen abzusitzen sind.
Er wird sich nicht erinnern, für welches Vergehen er den jeweils aktuellen Arrest absitzt. Wenn man ihn fragt, warum er jetzt in den „Bunker“ muss, wird er vielleicht sagen „Irgendeine Schlampe hat Scheiße gelabert, und dann war noch das mit dem Handy, und ich hab vergessen, meine Tabletten zu nehmen. Keine Ahnung, ich bau ständig Scheiße.“
Ursache und Wirkung verschwimmen, sein delinquentes Leben wiederholt sich im Kleinen. Er verstößt gegen die Regeln, hat keine Idee, wie eine Wiedergutmachung aussehen könnte, verliert den Überblick über seine Regelverstöße und damit werden sie für ihn auch irrelevant. Ein Gefangener sagte mal zu mir „Frau Pisch, ich bin ständig im Knast, dort ständig im Arrest, ich hab doch gar keinen Überblick. Ich bau ständig Scheiße, das ist für mich einfach normal.“
Nicht nur bezüglich des pädagogischen Effekts ist dieses System suboptimal: Jeder Mensch hat ein inneres Bedürfnis nach Ausgleich. Einen Gerechtigkeitssinn. Widerfährt uns ein Unrecht, so wollen wir dies sühnen. Je mehr wir in diesen Prozess eingebunden sind, umso befriedigender. Das System innerhalb der Haft führt bei den Bediensteten, wie ihr euch vorstellen könnt, zu massivem Frust, da auf den Ausgleich keinerlei Einfluss genommen werden kann. Die Betroffenen sind meist nicht einmal anwesend.
Nachdem die körperliche Züchtigung der Gefangenen aus genannten Gründen nicht mehr praktikabel ist, war es in den letzten Jahren beliebte und gelebte Praxis, das Gesetz ein klein wenig selbst in die Hand zu nehmen und die sogenannten BGH zweckzuentfremden: Ist Gefahr im Verzug, darf der Gefangene auch ohne Zustimmung eines Juristen in den BGH verbracht werden. Gefahr im Verzug bedeutet eine Selbst- oder Fremdgefährdung. Immer muss aber im Nachhinein die Genehmigung der Juristin eingeholt werden. Und ist die Gefahr vorüber, weil sich der Gefangene beruhigt hat, so ist er eigentlich wieder aus dem BGH zu entlassen.
Die Realität sah aber eher folgendermaßen aus: Gefangener greift Bedienstete an, Kollegen eilen zu Hilfe, nehmen den Gefangenen unter Verschluss (= Gefahr gebannt). DANN öffnen sie den Haftraum, holen ihn raus, bringen ihn in den BGH und verkaufen es der Juristin ein paar Stunden später so, als sei er weiterhin gefährlich – weil „des derf ma sich ja a net gefallen lassen.“ Stimmt – derf ma net. Der Denkfehler ist nur wieder die Sache mit der Gewaltenteilung.
Das korrekte Vorgehen ist eben: Die Meldung schreiben – warten. Gefangenen zum Juristen führen – warten. Urteil „Arrest“ – warten. Nach 6 bis 8 Wochen bekommt der Gefangene seine Strafe. Ich kann die Präferenz der ersten Variante durchaus verstehen. Erschreckend war nur, dass vielen AvD-Beamten das gesetzlich korrekte Vorgehen überhaupt nicht bewusst war und diese der vollen Überzeugung waren, der BgH sei ein probates Mittel, um unmittelbar strafen zu können.
Seit dem Skandal in Augsburg hat es nun aber auch der Letzte kapiert und das Ganze läuft seit einigen Wochen tatsächlich das erste Mal in meiner Vollzugskarriere so, wie es der Gesetzgeber vorgesehen hat. Und ich muss zugeben, dass dies auch in mir bisweilen einen deutlichen Frust hervorruft. Einzig unsere Ärzte setzen sich weiter über die ursprüngliche Idee des BgH hinweg. Dieses Referat hat einen Trumpf im Ärmel: Die Suizidalitätseinschätzung.
Bespuckt ein Gefangener einen Arzt, wandert der in den BgH, so sicher wie das Amen in der Kirche. Fragt man nach, heißt es zunächst sehr ehrlich, „das lass ich mir nicht gefallen.“ Kurze Zeit später schon aber wird erklärt, der Herr habe in der Sprechstunde suizidale Gedanken geäußert und ist deshalb im BgH zu sichern. Einige Gefangene meinen auch, sie könnten Medikamente erpressen, indem sie drohen, sich zu schneiden oder umzubringen.
Jedem ist klar, dass diese Patienten nicht suizidal sind, aber „das lass ich mir nicht gefallen.“ Der Gefangene sitzt daraufhin mindestens eine Nacht im BgH, egal wie vehement er sich distanziert. Unsere Ärzte dürfen die BgH-Unterbringung nicht wirklich selbst anordnen – aber die Juristen werden einen Teufel tun, gegen ärztlichen Rat zu entscheiden, wenn auf dem Papier „akute Suizidalität“ steht.
Ich möchte mir kein Urteil darüber erlauben, welches der moralisch richtige Weg ist. Rein juristisch ist das, was die Ärzte machen, klar falsch. Aus therapeutischer Sicht wiederum ist ein direkter Ursache-Wirkung-Zusammenhang unabdingbar. Ob ein gekachelter Raum und 24 Stunden in völliger Einsamkeit ohne Ablenkung, Fenster und Zeitgefühl nun wiederum therapeutisch wirksam sind oder wir uns von der Hoffnung auf Abschreckung zu einer Form der Folter verleiten lassen, bleibt ein weiteres Mal offen.
Bildquelle: erstellt mit Midjourney