Als ehrenamtlicher Notfallsanitäter stehe ich an einem verregneten Tag im Fußballstadion. Zufällig höre ich, dass sich der Veranstalter über unseren Verbrauch an Essensmarken beschwert. Geht’s noch undankbarer?
Eine gute Freundin fragte mich, ob ich mit ihr eine Sanitätsabsicherung eines Fußballspiels machen möchte. Nachdem ich ihr zugesagt hatte, fanden wir uns an jenem kühlen regnerischen Tag im Stadion ein und trafen uns zur Lagebesprechung in der geradezu winzigen Wache im Stadionbereich. Der Einsatzleiter teilte uns am Spielfeldrand ein. Ich schnitt einen Dialog zwischen ihm und einem weiteren Sanitäter mit; der Veranstalter habe sich negativ über den Verbrauch der Essensmarken durch die Helfer geäußert. Er wollte scheinbar nicht, dass zu viel auf seine Kosten gegessen wird.
Als einer dieser besagten Helfer war ich an diesem Tag für die größte Hilfsorganisation in Bayern als Notfallsanitäter im Dienst, ehrenamtlich natürlich. Es gab keine brenzlige Situation, niemand kämpfte gerade um sein Leben. Und trotzdem blieb mir der Satz im Kopf wie ein Stachel. Der Veranstalter wollte nicht, dass zu viel auf seine Kosten gegessen wird – durch Helfer, die ihre Freizeit opfern und für Einsätze mit potenziell schweren Verletzungen oder Erkrankungen da sind. Durch Menschen, die kostenlos da sind, um im Notfall schnell, besonnen und professionell zu handeln. Ich versuchte, den inneren Konflikt in meinem Kopf aufzulösen. Spoiler: Es gelang mir nicht.
Fußball ist längst nicht mehr nur Sport. Es ist Event, Industrie und Hochglanzprodukt. Selbst in der dritten Liga sind Profistrukturen Alltag: Es gibt Sponsorendeals, Vermarktungskonzepte, Business-Seats. Spieler werden gut bezahlt. Trainer, Greenkeeper, Sicherheitsdienste, Reinigungskräfte, alle erhalten Geld. Und das ist auch völlig in Ordnung, denn sie erbringen eine Leistung, mit der man dieses Spiel nach Vorgaben der Stadt überhaupt erst veranstalten darf.
Nur einen Haken gibt es: Die medizinische Versorgung des Publikums, der Spieler, der Betreuer läuft vielerorts ohne Bezahlung, ohne Spesen – und manchmal nicht einmal mit dem Mindestmaß an Verpflegung auf ehrenamtlicher Basis. Wenn dann ein paar Wurstsemmeln „zu viel“ gegessen werden, ist das plötzlich ein Problem.
Viele der medizinischen Ehrenamtlichen haben eine Fortbildung zum Sanitäter oder Rettungshelfer, einige sind ausgebildete Notfallsanitäter. Davon besitzen einige jahrzehntelange Erfahrung im Rettungsdienst. Die akute lebensbedrohliche Notfallsituation ist ihr Spielfeld. Sie bringen Know-How, psychische Belastbarkeit, Teamfähigkeit und Entscheidungsstärke mit – alles Fähigkeiten, für die man im Berufsleben gutes Geld verlangt. Im Stadion gibt es diese Erfahrung jedoch gratis.
Die Anfahrt schlägt mit dem privaten Auto zu Buche, manchmal über 30 oder 40 Kilometer bis in die Zentrale. Dazu kommt der Zeitaufwand, in dem sich die Leute die Kleidung anlegen und von der Zentrale mit den dienstlichen Fahrzeugen hin zum Stadion fahren. Die Veranstaltung selbst dauert in diesem Fall insgesamt 210 Minuten. 90 Minuten davon sind reine Spielzeit, plus eine Stunde davor und danach zur Absicherung der Zuschauer. Allerdings gibt es durchaus Events, die sogar deutlich länger andauern als ein normaler Arbeitstag. Dazu dann noch der mentale Einsatz: stundenlang konzentriert bleiben, in unklaren Situationen schnell reagieren, medizinische Verantwortung und das dazugehörige Haftungsrisiko tragen, das Ganze für null Euro. Oder, wie manche es nennen würden: „aus Überzeugung“.
Ja, viele Ehrenamtliche machen ihren Dienst freiwillig und mit Engagement. Das ist ehrenwert, keine Frage. Aber es ist ein Unterschied, ob man in Krisensituationen freiwillig hilft – oder ob sich Strukturen darauf verlassen, dass schon irgendjemand freiwillig da sein wird. Ohne Gegenleistung, ohne Anerkennung und ohne, dass das Thema Vergütung auch nur im Raum steht.
Warum arbeitet jemand gratis? Um der ohnehin schon geldüberladenen Hilfsorganisation noch mehr Knete in die Kreisverbandskassen zu schieben? Weil es Sinn stiftet? Weil man gebraucht wird? Oder einfach, weil es ein gutes Gefühl ist, zu helfen? Viele engagieren sich sicher ehrenamtlich, weil sie der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen und es Momente gibt, in denen nicht der Lohn zählt, sondern der Zweck. Teil einer Organisation und eines Teams zu sein, das im Notfall wirklich einen Unterschied macht – das ist für viele ein Antrieb. Doch genau dieses Ideal der freiwilligen Einsatzbereitschaft wird zur Schwachstelle, wenn es ausgenutzt wird. Sie verkümmert zur Selbstverständlichkeit, die man nicht einmal mehr respektvoll behandelt.
Die Szene mit der Essensmarke hat mir gezeigt, wie weit wir davon entfernt sind, Ehrenamt angemessen wertzuschätzen. Wenn der Veranstalter eines Profiturniers es als „zu viel“ empfindet, dass Helfer sich ein belegtes Brötchen holen, läuft etwas gewaltig schief. Vielleicht liegt das Problem nicht einmal bei den konkreten Veranstaltern. Vielleicht ist es ein systemischer Fehler: Die Hilfsorganisationen verhandeln mit den Veranstaltern über Pauschalen. Die fließen in die Kassen der Kreisverbände, nicht zu den Helfenden.
Das bedeutet: Der Veranstalter zahlt zwar oft Geld für den Sanitätsdienst an die Hilfsorganisation, aber das kommt nicht bei den Leuten an, die dann tatsächlich vor Ort stehen, das Risiko tragen und die Arbeit erledigen. Aber warum ist das so? Warum ist es akzeptabel, dass Notfallsanitäter im Stadion gratis arbeiten, während die Security bezahlt wird?
Es geht hier nicht um Luxus oder Geldgier. Es geht um Wertschätzung. Um faire Bedingungen. Um die Frage, was uns Engagement wert ist – nicht nur in Sonntagsreden, sondern im Alltag.
Ehrenamt ist kein rechtsfreier Raum, in dem jede Arbeitsregel ausgesetzt werden darf, wie es zum Beispiel mit dem Arbeitszeitgesetz üblich ist. Es ist auch kein Selbstbedienungsladen für Veranstalter, die sich Budget für medizinische Versorgung sparen, weil „da ja eh immer jemand freiwillig kommt“. Wenn Profisportveranstaltungen eine medizinische Absicherung brauchen – und die brauchen sie – dann muss diese auch als professioneller Bestandteil der Veranstaltung begriffen und so behandelt werden. Wer das nicht leisten will, darf sich fragen lassen, ob er die Veranstaltung überhaupt verantwortungsvoll organisiert.
In Deutschland ist Geld für vieles da. Für Militär und Rüstungsprojekte. Für Straßenbau, Automobilförderung, Großveranstaltungen, Werbekampagnen. Milliarden werden bewegt, sobald ein Projekt als wichtig gilt. Aber für Ehrenamtliche, die im medizinischen Bereich tätig sind – Menschen mit Verantwortung, Ausbildung und hohem Risiko –, da wird plötzlich gerechnet, ob noch eine Essensmarke übrig ist.
Die Wahrheit ist: Das System der Freiwilligkeit wird ausgenutzt. Nicht aus bösem Willen, sondern weil es bequem ist. Weil es funktioniert. Und weil Ehrenamtliche selten laut werden. Aber genau das ist das Problem.
Der Satz über die Essensmarken hat mich getroffen, weil er das Denken darüber entlarvt. Wir müssen das Ehrenamt aus der Romantisierung holen. Nicht abschaffen – aber ehrlich machen, denn Ehrenamt bedeutet nicht, dass Hilfe nichts kosten darf. Es bedeutet, dass Menschen bereit sind, über das Normale hinaus zu handeln. Diese Bereitschaft verdient nicht nur Applaus, sondern Struktur, Unterstützung – und dort, wo es angebracht ist: eine faire Entlohnung. Wer freiwillig hilft, soll das tun können, ohne draufzuzahlen. Und ganz sicher ohne schlechtes Gewissen wegen einer Essensmarke.
Bildquelle: Hans Isaacson, Unsplash