In ganz Europa werden junge Ärzte zu Fachärzten für Notfallmedizin ausgebildet. Ganz Europa? Nein! Einige Länder – darunter Deutschland – hören nicht auf, dieser Entwicklung Widerstand zu leisten. Warum ist das so?
Wenn ein Patient in Europa mit akutem Brustschmerz, Dyspnoe oder nach einem Verkehrsunfall versorgt werden muss, trifft er in fast allen EU-Nationen mittlerweile auf einen Facharzt für Notfallmedizin oder Ärzte in Weiterbildung in selbigem Fachgebiet. Bis Ende 2024 war bereits in 23 der 27 EU-Nationen der Erwerb dieses Facharzt-Titels möglich. Deutschland erscheint da auf der Landkarte wie ein kleines gallisches Dorf, das der Einführung einer entsprechenden Facharzt-Weiterbildung immer noch erbitterten Widerstand leistet. Statt auf einen Facharzt für Notfallmedizin trifft man in deutschen Notaufnahmen und im Rettungsdienst auf einen Flickenteppich aus Zusatz-Weiterbildungen und Fachärzte verschiedener Fachrichtungen. Aber warum ist das eigentlich so – und sollte sich nicht langsam etwas daran ändern?
Abb. 1, Notfallmedizinische Spezialisierung in Europa. Credit: Fandler et al.
Die ausführlichste Weiterbildung im Bereich Notfallmedizin ist die 2018 eingeführte Zusatz-Weiterbildung Klinische Akut- und Notfallmedizin, die berufsbegleitend als Ergänzung zu einer Facharzt-Ausbildung erworben werden kann – eine Art Anhängsel an einen bestehenden Facharzt-Titel. Am häufigsten nehmen Anästhesisten, Internisten und Chirurgen diese in Anspruch. Die Inhalte des 2-jährigen Programms basieren auf den Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Notfallmedizin (EUSEM).
Das klingt erstmal gut, jedoch sind diese Empfehlungen für eine 5-jährige Facharzt-Weiterbildung ausgelegt – in Deutschland sollen die Inhalte aber innerhalb von 2 Jahren vermittelt werden. Daneben gibt es die Zusatz-Weiterbildung Notfallmedizin, die bereits während der Facharzt-Ausbildung erworben werden kann und zum Einsatz als Notarzt im präklinischen Bereich qualifiziert. Sie umfasst 80 Stunden Kurs-Weiterbildung und den Nachweis von 50 Notarzteinsätzen im Rettungsdienst. Voraussetzungen sind 24 Monate Weiterbildung in der unmittelbaren stationären Patientenversorgung und 6 Monate intensivmedizinische Erfahrung. Der Bereich Notfallmedizin gleicht in Deutschland also einem Flickenteppich – die Kompetenz ist ungleich verteilt und wird den steigenden fachlichen Anforderungen zumindest in Teilen nicht gerecht.
In Deutschland fordern verschiedene Stimmen daher seit Jahren die Einführung einer Facharzt-Ausbildung und damit eine Angleichung an den europäischen Standard. Die Forderung erscheint nachvollziehbar: Notaufnahmen und der präklinische Einsatz sollten kein Ort für Trial-and-Error sein. Die Patienten verdienen es, von Experten betreut zu werden, die die Fähigkeit besitzen, komplexe, möglicherweise instabile Patienten schnell zur erfassen, zu triagieren und zu versorgen – eine Fähigkeit, die in einer Facharzt-Ausbildung systematisch vermittelt werden könnte. In Notfallsituationen sind Kenntnisse aus verschiedenen Fachrichtungen notwendig – ein eigener Facharzt könnte dieser Interdisziplinarität im Notfallkontext gerecht werden.
Eine der Stimmen, die am lautesten die Erschaffung eines Facharztes für Notfallmedizin fordern, ist die Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e.V. (DGINA), die jüngst in Köln ihre 20. Jahrestagung abhielt. Im Fokus der Tagung stand die nächste Generation an Notfallmedizinern und somit auch die Weiterbildung junger Ärzte. In diesem Kontext stellte die DGINA einen strukturierten Vorschlag für die Facharzt-Weiterbildung in Form eines Curriculums vor. Dieses soll als (Diskussions-)Grundlage für eine eigenständige Facharzt-Weiterbildung in der Notfallmedizin dienen.
Der Vorschlag sieht vor: Eine 5-jährige Weiterbildungszeit mit spezifischen Rotationen zum strukturierten Kompetenzerwerb. Besonders wichtig sei dabei der interdisziplinäre Ansatz, der die Ärzte in Weiterbildung gezielt auf die komplexen Anforderungen der Notfallversorgung vorbereiten soll. Diese lassen sich – wie bereits erwähnt – häufig nicht innerhalb der bislang bestehenden Fachgrenzen abbilden.
Zudem soll so den gestiegenen Anforderungen an die Versorgungsqualität und Qualifikation des Personals begegnet werden. Das Curriculum sieht neben einer 3-jährigen Zeit in einer Notaufnahme auch Rotationen in der Intensivmedizin (6 Monate), Inneren Medizin, Kinder- und Jugendmedizin, Anästhesiologie, Chirurgie und Neurologie (zusammen mindestens 12 Monate) vor. Insgesamt umfasst der Vorschlag eine Liste von 174 Kompetenzen, die auf dem Weg zum Facharzt-Titel erworben werden sollen.
Für Dr. Julia Lorenz, Ärztin in Weiterbildung und Vertretung der YoungDGINA, gleicht die aktuelle Situation einem „Flickenteppich aus verschiedenen Zusatzbezeichnungen und Rotationssystemen“. Sie fordert daher, dass die Weiterbildung „systemisch fundiert“ angegangen wird, und zwar „über Jahre – und nicht nebenbei“. Deutschland sei aufgrund des uneinheitlichen Systems auch für hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland weniger attraktiv als andere europäische Staaten.
Die Autoren des neuen Curriculums hoffen, dass die Schaffung einer Facharzt-Bezeichnung zudem die Attraktivität des Berufsbildes steigern wird. Die aktuelle 2-jährige Weiterbildung hat den sportlichen Anspruch, die Kenntnisse, die in anderen europäischen Ländern in 5 Jahren vermittelt werden, innerhalb von 2 Jahren zu vermitteln. Die Fülle an Inhalten in dieser kurzen Zeit werde zu einer „faktisch schwer lösbaren Herausforderung bezüglich einer qualitativ hochwertigen Vermittlung bzw. des Erlernens der notwendigen Inhalte“, so die Autoren. Nicht nur inhaltlich eine große Aufgabe – auch zeitlich. Die Inhalte müssen parallel zum fordernden Krankenhausalltag erlernt werden. Das geht entsprechend auf Kosten der ohnehin rar gesäten Freizeit.
Bei all den genannten Argumenten drängt sich die Frage auf, warum nicht längst der eigene Facharzt geschaffen wurde. Die Antwort ist mehrschichtig. Da ist zuerst einmal die pragmatische – eher nicht zufriedenstellende – Antwort, dass es aktuell ja auch irgendwie funktioniert und die Kliniken scheinbar für sich passende Lösungen gefunden haben. Ein weiterer Punkt sind die Kosten und der Organisationsaufwand. Ein neuer Facharzt braucht neue Strukturen mit Weiterbildungskonzepten und Weiterbildern. Beim Thema Struktur spielt auch die allgemeine Kammerstruktur in Deutschland eine Rolle. Die Facharzt-Weiterbildungen sind föderal geregelt. Jede Landesärztekammer entscheidet eigenständig über die konkrete Umsetzung der Weiterbildungsordnungen. Innovation braucht in diesem System einen langen Atem.
Skeptiker befürchten zudem eine weitere Fragmentierung der medizinischen Versorgung. Dadurch könnte der ganzheitliche Blick auf den Patienten verloren gehen. Auch Dr. Georg Ertl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Innere Meidzin (DGIM), sprach sich noch vor Kurzem gegen die Einführung eines neuen Facharztes aus, „da ein solcher die große fachliche Bandbreite der Akut- und Notfallmedizin nicht angemessen abbilden kann.“ Zudem besteht die Befürchtung, dass der Ressourcen- und Personalmangel mit der Einführung eines Facharztes für Notfallmedizin verschärft werden könnte, da zunächst neue Weiterbildungsstellen geschaffen und auch finanziert werden müssen.
Über diese organisatorischen Punkte hinaus vermuten die DGINA-Repräsentanten, dass auch der Konkurrenzkampf innerhalb der Ärzteschaft eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt. So erklärt Ranka Marohl, Vorstandsmitglied der DGINA, auf Nachfrage von DocCheck im Rahmen der DIGNA-Tagung beispielsweise, dass einige Fachärzte denken würden, dass niemand die Notfälle ihres Faches so gut behandeln könne, wie sie selbst. DGINA-Präsident Martin Pin ergänzt, dass es immer wieder Ärzte in den Kammern gebe, die befürchten, dass Fachärzten für Notfallmedizin die Tiefe innerhalb der Fächer fehlen könnte. Dabei sei aus seiner Sicht wichtig zu beachten, dass die Notfallmedizin keinen anderen Fachdisziplinen etwas wegnehmen wolle. Im Zentrum der Bemühungen um eine eigene Facharzt-Bezeichnung soll stattdessen die Qualität der Patientenbetreuung stehen. Pin sieht dabei das Potenzial, unnötige Schleifen für die Patienten zu vermeiden. Zudem würde die Facharzt-Weiterbildung 5 Jahre dauern im Gegensatz zu den aktuell nötigen 7 Jahren, die für eine Facharzt-Ausbildung plus Zusatz-Weiterbildung eingeplant werden müssten. Gerade in Zeiten des Ärztemangels ist dies ein wichtiger Gedanke.
Die Notfallmedizin ist in den Augen der DGINA und anderer Befürworter in der Praxis längst ein eigenes Fach und die Anerkennung als eigener Facharzt wird als logischer nächster Schritt gesehen. Sie würde das Fachgebiet professionalisieren und damit den Patienten zugutekommen. Doch wie so oft gilt: Was fachlich medizinisch sinnvoll wäre, muss berufspolitisch mühsam erkämpft werden. Die DGINA hat nun aus eigener Sicht einen großen Schritt gemacht. Bleibt abzuwarten, wie die Reaktionen ausfallen und ob die Forderungen erhört werden. Vielleicht können dann bald die ersten Fachärzte für Notfallmedizin in deutschen Notaufnahmen an die Arbeit gehen.
Bildquelle: Mathurin NAPOLY / matnapo, Unsplash