Scheinbehandlungen können Beschwerden lindern – oder verstärken. Das Faszinierende daran: Ihr müsst eure Patienten dafür nicht mal anlügen. Wie praxistauglich ist der Placebo-Effekt?
Glaube kann Berge versetzen, heißt es. Ganz so weit geht die Kraft der Einbildung zwar dann doch nicht, aber ein ums andere Mal zeigt sich, welch beeindruckend positive Effekte Placebos und negative Effekte Nocebos haben können. Nun geht sogar ein neu eingerichteter Sonderforschungsbereich (SFB) „Treatment Expectations“ mit 16 Projekten in Essen, Marburg und Hamburg dem Phänomen auf den Grund. Erklärtes Ziel des SFB: den Placeboeffekt für die medizinische Versorgung nutzbar zu machen.
Will ein Arzt Placebos einsetzen, muss er den Patienten nicht einmal vorgaukeln, ihnen einen Wirkstoff zu verabreichen. Denn es gibt Hinweise darauf, dass Placebos ebenso wirken, wenn man Patienten darüber aufklärt, dass sie nur ein Scheinmedikament zu sich nehmen. Diese Aufklärung muss allerdings recht weit gehen: So hat eine Arbeit 2017 in der Zeitschrift Pain gezeigt, dass ein offen benanntes Placebo, oder Open Label Placebo, in der Schmerzwahrnehmung einem verdeckten Placebo nur dann ebenbürtig ist, wenn den Versuchspersonen auch glaubhaft versichert wird, dass Placebos wirken. Man darf das Placebo also nicht nur offenlegen, sondern muss es auch anpreisen – so kreiert man eine selbst erfüllende Prophezeiung auf Linderung der Beschwerden.
Die Studie hat zweierlei deutlich gemacht: Es geht nicht primär darum, dass Patienten sich etwas Pillenartiges einverleiben, was dann irgendwo im Körper den Heilungsprozess katalysiert, sondern dass eine positive Erwartung geweckt wird. Und sie hat auch gezeigt, dass die Wahrnehmung der Beschwerden die entscheidende Rolle spielt. Denn bei den Probanden änderte sich nur die wahrgenommene Schmerzintensität, nicht aber die objektive Schmerztoleranz. Der Berg, den das Placebo versetzt, ist also eher das Bild eines Bergs.
Nun haben die Forscher der Universitäten Basel, Zürich und Boston eine weitere Studie nachgelegt: 150 Frauen mit mittleren bis schweren Menstruationsbeschwerden teilten sie auf drei Gruppen auf: Eine bekam für 6 Wochen täglich zwei rosa Pillen des Fabrikats „P-Dragees rosa Lichtenstein“ als Open Label Placebo mit einer ausführlichen Erläuterung über die segensreiche Wirkung von Placebos, die zweite Gruppe die rosa Pillen nur mit dem Hinweis, dass es Placebos sind, und die dritte Gruppe die Standardbehandlung – laut Autoren unternahmen von 150 Probandinnen 60 etwas gegen ihre Beschwerden, die Hälfte davon schluckte Ibuprofen.
Mit ihrer Erläuterung, oder besser gesagt Anpreisung, schraubten die Forscher die Erwartung bis zum Anschlag: Den Frauen wurde erzählt, dass der Placeboeffekt groß sein kann, dass Placebos auch aufgedeckt wirken, dass PMS-Maßnahmen sowieso zu 40 % über den Placeboeffekt funktionieren, dass klassische Konditionierung ein bekannter Mechanismus ist und dass dieser im Gehirn gemessen werden kann. Auch, dass Zweifel an den rosa Pillen zwar kein Problem, deren vertrauensvolle Einnahme aber erforderlich ist, und dass dies die erste PMS-Studie ihrer Art ist. Außerdem bekamen sie ein Video über den Effekt von Open Label Placebos gezeigt – inklusive eines Patientenberichts.
Den Effekt ermittelten die Forscher anhand eines Online-Fragebogens nach dem Deutschen PMS Syndrom Tagebuch, das 27 Symptome und 3 Beeinträchtigungen im Alltag erfasst. Das Ergebnis klingt erst einmal sensationell und wie eine Bankrotterklärung der etablierten Medizin: Sowohl körperliche als auch psychische Symptome gingen beim Open Label Placebo mit Anpreisung um 80 % zurück, bei Open Label Placebo ohne Anpreisung um 50 % und bei der Standardbehandlung nur um 30 %. Ein angepriesenes Placebo ist also angeblich fast dreimal so wirksam wie alles, was die Schulmedizin im Arzneischrank hat. Das Fazit der Forscher: „Bedenkt man die Effektivität, Sicherheit und Akzeptanz der Open Label Placebos, scheinen sie eine brauchbare Alternative zu empfohlenen Erstlinientherapien der PMS zu sein.“
So kann man das allerdings nicht stehen lassen. Zum einen ist die Probandengruppe höchstwahrscheinlich nicht repräsentativ. Über Poster wurden Probandinnen für eine Studie über „integrative und nebenwirkungsfreie PMS-Behandlung“ gesucht. Wer darauf anspringt, ist vermutlich auch für Placebos besonders offen. Das sehen die Autoren selbst als Limitierung ihrer Studie.
Zum anderen sind die Zahlen auf den zweiten Blick doch nicht so überzeugend. Bei allen Vergleichen der Gruppen und Endpunkte sind nur zwei der für Mehrfachtestung adjustierten Ergebnisse signifikant: Verglichen mit der Standardbehandlung lassen nur die Open Label Placebos mit Anpreisung die Symptom-Intensität zurückgehen, nicht aber die Open Label Placebos ohne Anpreisung. Wird die Symptom-Intensität separat für psychische und körperliche Symptome betrachtet, bleibt nur ein Effekt mit grenzwertigem p-Wert für die psychischen Symptome übrig. Das war‘s.
Alle anderen Unterschiede, etwa die bei der wahrgenommenen Beeinträchtigung im Alltag, sind nicht signifikant. Es ist also nicht korrekt, wenn die Autoren auch eine Überlegenheit der Open Label Placebos bei körperlichen Symptomen behaupten. Und es ist auch nicht korrekt, wenn sie nicht einschränken, dass man die Mittel vorher anpreisen muss.
Denn das ist der springende Punkt: Wie der Mediziner und Medizinhistoriker Uwe Heyll in seinem Buch „Placeboeffekte als erlebte Erkenntnis“ schlüssig darlegt, wird der Placeboeffekt überbewertet und zu Unrecht glorifiziert. Es beschreibt den Effekt als bestätigte Erwartung, wie wir sie im Alltag in jeder Sekunde an unsere Umwelt haben: „Placeboeffekte sind nicht selten, sondern häufig, sie kommen nicht allein in besonderen therapeutischen Situationen zustanden, sondern laufen pausenlos ab und sie stellen keine Irrtümer dar, sondern spielen eine unverzichtbare Rolle in den Funktionen des menschlichen Erkennens und Handelns“.
Das weist unmittelbar auf eine weitere Schwäche der Studie hin: Der Vergleich war nicht fair. Denn wie hätte die Standardbehandlung abgeschnitten, wenn sie den Probanden ebenso wortreich und überzeugend angepriesen worden wären, wie der anderen Gruppe das Open Label Placebo? Und welche Linderung hätte eine Gruppe erfahren, die gar keine Intervention bekommen hätte, aber dafür einen Werbevortrag über die wunderbare Welt der Selbstheilungskräfte, der Autosuggestion und der Selbstwirksamkeit?
Vielleicht kommt der SFB Treatment Expectation am Ende ja zu dem Schluss, dass es all die rosa Pillen und Anpreisungen des Placeboeffekt ebenso wenig braucht wie all das Gedöns und Klappernrasseln der Alternativmediziner. Vielleicht kann ein Arzt den Heilungsprozess genauso effektiv unterstützen, wenn er aus Überzeugung freundlich sagt: „Das wird schon wieder.“
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