Wer schön sein will, muss schlank sein – vor allem junge Menschen gehen für dieses gesellschaftliche Ideal über die Grenzen ihres Körpers hinaus. Wie es im Kopf einer Patientin mit Anorexia nervosa aussehen kann.
Hannah ist 24 Jahre alt. Mit ihren 65 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,65 Metern fühlte sie sich lange Zeit wohl. Doch vor drei Jahren begannen Freundinnen und ihr Partner, sie auf ihr Aussehen anzusprechen. Sie könne doch „noch ein bisschen besser“ aussehen, schlug man ihr vor. Gemeinsamer Sport wurde zur Routine und die positiven Rückmeldungen aus dem Umfeld motivierten sie zu immer mehr Bewegung. Aus zwei Sporteinheiten pro Woche wurde schnell tägliches Training – aus drei Mahlzeiten am Tag nur noch ein Fitness-Shake am Morgen.
Was als gesunde Veränderung begann, entwickelte sich jedoch rasch zu einer Art Zwang: Hannah setzte sich permanent unter Druck, weiter abzunehmen. Jedes neue Foto brachte mehr Social-Media-Likes und mehr Bestätigung. Ihr schleichender körperlicher Verfall jedoch blieb im Umfeld unbemerkt – sie sah ja „immer so gut aus“. Erst, als Hannah während einer Vorlesung plötzlich zitternd zusammenbrach und ins Klinikum kam, wurde die Diagnose gestellt: Anorexia nervosa.
Hannahs Geschichte ist typisch für viele Betroffene. Die Erkrankung beginnt meist schleichend, oft mit einer harmlosen Diät, die zunehmend außer Kontrolle gerät. Betroffene und ihr Umfeld erkennen das Problem lange nicht. Befeuert wird es durch Social Media und unerreichbare Schönheitsideale. Die Gedanken kreisen immer enger um die Themen Gewicht, Ernährung und vor allem: Kontrolle.
Anorexia nervosa, wörtlich übersetzt ‚nervliche Appetitlosigkeit‘, ist eine schwerwiegende psychische Erkrankung, die durch einen absichtlich herbeigeführten Gewichtsverlust und ausgeprägte Angst vor Gewichtszunahme gekennzeichnet ist. Der Begriff wird häufig auch als Synonym zum Wort ‚Magersucht‘ verwendet.
Betroffene haben oft eine verzerrte Wahrnehmung ihres Körpers, panische Angst vor Gewichtszunahme und ein tiefes Bedürfnis nach Kontrolle. Das Hungern ist kein „Lifestyle“, sondern viel mehr ein verzweifelter Versuch, mit innerem Chaos fertig zu werden. Die Erkrankung betrifft überwiegend junge Frauen, meist im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter. Das Bedürfnis nach Kontrolle und Perfektionismus gilt als zentraler Risikofaktor.
Seit drei Wochen ist Hannah auf der geschützten Station. Ihr BMI liegt mittlerweile bei 14,4. Sie lässt Mahlzeiten aus und macht in der Nacht heimlich Sport. Ihr Gesicht ist eingefallen, die Haut blass und ihre Hände eiskalt.Die Angst vor jeder Kalorie, der ständige Kampf um Kontrolle – all das bestimmt Hannahs Alltag. Und gleichzeitig ist da eine tiefe Verzweiflung, die sich in jedem ihrer Blicke, in jeder auch noch so kleinsten Bewegung zeigt.
Die Anorexie ist eine der wohl gefährlichsten psychischen Erkrankungen mit einer der höchsten Sterblichkeitsraten unter psychiatrischen Störungen. In Deutschland wurden 2023 rund 9.200 Fälle in Krankenhäusern diagnostiziert. Schätzungen zufolge sind in westlichen Ländern zwischen 5 und 18 % der jungen Frauen und bis zu 2 % der jungen Männer bis zum frühen Erwachsenenalter von einer Essstörung betroffen.
Anorexia nervosa ist keine Lifestyle-Entscheidung, sondern eine schwere psychiatrische Erkrankung mit komplexen Ursachen und gravierenden Folgen. Sie zerstört Leben – meist das von jungen Menschen. Der Weg zurück ist lang und erfordert professionelle Hilfe, Geduld und Verständnis. Hannah kämpft jeden Tag. Ob und wann sie die Klinik verlassen kann, bleibt jedoch ungewiss.
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