Das Cerebellum kann mehr als lange gedacht. Jetzt zeigt sich, dass es auch bei komplexen kognitiven und emotionalen Funktionen mitmischt. Was das für die Therapie psychiatrischer Erkrankungen bedeutet, lest ihr hier.
Das Kleinhirn erlebt derzeit eine Renaissance in der Neurowissenschaft, denn neuere Studien zeigen: Das Cerebellum ist tief in kognitive und emotionale Prozesse eingebunden – und damit auch in psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie, Autismus oder Depression. Parallel dazu entwickeln sich nicht-invasive Hirnstimulationstechniken rasant weiter und eröffnen neue Wege für die gezielte Modulation zerebellärer Netzwerke. Der folgende Überblick stellt die aktuellen Forschungsergebnisse vor und beleuchtet das therapeutische Potenzial dieser Entwicklungen.
Lange galt das Kleinhirn als reine Steuerzentrale für Bewegung, Haltung und Koordination. Inzwischen ist klar: Es ist über kortiko-zerebelläre Schleifen mit präfrontalen, parietalen und limbischen Hirnarealen verknüpft und nimmt damit Einfluss auf höhere kognitive Prozesse – darunter Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprachverarbeitung und Emotionen. Diese Erkenntnisse eröffnen neue therapeutische Perspektiven, insbesondere bei Erkrankungen, die durch eine gestörte kognitive Kontrolle oder soziale Dysfunktion gekennzeichnet sind.
Zur gezielten Modulation zerebellärer Aktivität kommen derzeit vor allem zwei Verfahren zum Einsatz:
Beide Verfahren sind gut verträglich und werden zunehmend auch in Hinblick auf das Zerebellum untersucht.
Eine anatomische Studie aus Februar 2025 untersuchte genetisch kausale Zusammenhänge zwischen 77 bildgebungsbasierten zerebellären Phänotypen und vier wichtigen und teils unzureichend therapierbaren psychiatrischen Erkrankungen: Schizophrenie, bipolare Störungen, unipolare Depression und ADHS.
Dabei identifizierten sie zahlreiche zerebelläre Subregionen, speziell in den posterioren Lappen (u. a. Lobuli VIII, IX, X, Crus I/II), deren Strukturmerkmale mit einem signifikant erhöhten Risiko für diese Störungen assoziiert waren. Besonders eindrucksvoll war ein über 200 % erhöhtes Schizophrenierisiko bei vergrößerter grauer Substanz im linken Lobulus VIIIa. Umgekehrt zeigte die Analyse auch, dass psychiatrische Erkrankungen ihrerseits strukturelle Veränderungen in zerebellären Regionen verursachen können – besonders im Bereich der weißen Substanz.
Diese Ergebnisse liefern nicht nur starke Hinweise auf eine bidirektionale Beziehung zwischen zerebellären Strukturen und psychiatrischen Erkrankungen, sondern unterstreichen auch die Relevanz des Kleinhirns für emotionale Regulation, Motivation und Kognition. Die Forscher fordern, das Kleinhirn stärker in Modelle der Psychopathologie und zukünftige Behandlungsstrategien einzubeziehen, speziell im Hinblick auf spezifische zerebelläre Stimulationsverfahren.
Es zeigt sich also: Die nicht-invasive Kleinhirnstimulation ist ein vielversprechender Ansatz in der Behandlung verschiedener neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen. Dennoch ist der klinische Einsatz bislang noch experimentell. Um das therapeutische Potenzial vollständig zu erschließen, sind groß angelegte, multizentrische und randomisierte Studien notwendig.
Dabei müssen insbesondere die langfristige Wirksamkeit, die optimalen Stimulationsparameter wie Frequenz, Dauer und Lokalisation sowie mögliche Nebenwirkungen systematisch untersucht werden. Ebenso stellt sich die Frage, in welchen Kombinationen, etwa mit Verhaltenstherapie oder Pharmakotherapie, die Verfahren den größten Nutzen entfalten. Erst wenn diese Fragen geklärt sind, lässt sich das volle klinische Potenzial der zerebellären Neuromodulation realistisch bewerten.
Bildquelle: Fellipe Ditadi, Unsplash