KOMMENTAR | Der Praxisalltag könnte sich mit dem Primärarztsystem völlig verändern – zum Positiven. Wie diese Revolution funktionieren kann.
Bisher gilt das Primat der freien Arztwahl. Mit der Versichertenkarte kann sich jeder Patient beliebig oft bei frei gewählten Haus- und Gebietsärzten vorstellen. Ein Luxus, den sich viele Patienten auch gönnen.
Hier einige exemplarische Beispiele:
Viele Gebietsarztkontakte bekommen wir nur durch Zufall mit. Aber in der Regel wissen es die Patienten auch nicht besser und denken oft, dass sie mit den-und-den Symptomen direkt zum Spezialisten müssen. Und sind sich nicht darüber im Klaren, welche Kosten und Probleme damit ausgelöst werden. Da wären zum Beispiel Wartezeiten für wichtige und unwichtige Anliegen, Überspringen der Gebietsarztebene und direkte Krankenhauseinweisung … dieser Luxus, den ich bereits oben etwas despektierlich erwähnte, ist den Patienten oft nicht bewusst.
Manche Gebietsärzte, wie die Kardiologen hier vor Ort, bestehen inzwischen auf einer Überweisung für eine Vor-Filterung der vielen Thoraxschmerzen, die dringend abgeklärt werden müssen. Und nichts anderes ist eigentlich ein Primärarztsystem – einen Hausarztpraxis-Kontakt vorzuschalten. Das soll jetzt verpflichtend eingeführt werden und wird viele Probleme lösen: Doppeluntersuchungen, im Nirgendwo verlorene Befunde, vor allem aber Wartezeiten und Ärger auf allen Seiten verringern. Oder wie Politik und Kassen es formulieren würden: Es werden auch viele Kosten gespart.
Die Patienten werden es akzeptieren. Denn oft sind sie ganz erstaunt, wenn ich erwähne, dass ich auch ein EKG habe. Oder in die Ohren schauen kann (ok, Ohren ausspülen mache ich ungerne). Erst recht werden sie es akzeptieren, wenn das ganze System dann geschmeidiger laufen wird.
Aber: Das ist eine Revolution. Das Primärarztsystem wird die Abläufe und Wege für Ärzte und Patienten vollständig neu organisieren. Dafür wird man Eier brauchen. Und hier bin ich leider skeptisch, ob es auch richtig durchgezogen wird. Halbgare Konzepte werden uns leider nicht weiterbringen. Ausnahmen hier, Ausnahmen dort sind zu befürchten, die schon überall gefordert werden.
Ob dadurch wirklich so viele neue Fälle auf uns zukommen, das will ich erst einmal sehen. Die KV Bayern redet von 500 und der Spifa von 2.000 zusätzlichen Hausarzt-Fällen. Aber wie diese Zahlen berechnet worden sind, ist vollkommen unklar. Ich bin mir sicher, es wurden auch viele Patienten nur als reine Facharztfälle berechnet, obwohl sie auch beim Hausarzt waren (und im Krankenhaus. Mehrmals). Die Wege der Patienten sind einfach maximal unklar und intransparent.
Sicher, es wird mehr Arbeit auf uns Hausärzte zukommen. Erst recht, wenn man das Gatekeeper-Modell wirklich ernst nimmt. Dann müssen wir viel erklären und aufklären. Wie viel mehr Arbeit es wird, das werden wir sehen. Und dann die Kapazitäten anpassen. Mehr Hausärzte ausbilden, einstellen, fördern. Mehr Geld hier geben. Bürokratie weg, nichtärztliche Berufe im Team mehr machen lassen, die Digitalisierung muss endlich besser werden …
Bis wir alle, Ärzte und Patienten, uns daran gewöhnt haben, werden schmerzliche Jahre vergehen. Aber irgendwann müssen wir anfangen, wirklich etwas zu verändern. Und das Primärarztsystem hat das Potenzial, viele Probleme zu lösen – wenn es gut und konsequent gemacht ist.
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