Franz hat ein Bronchialkarzinom und starke Schmerzen, die er trotz Opiaten nicht in den Griff bekommt. Wir stehen in seinem Wohnzimmer, als ich seine Kamera sehe. Eine Lebensgeschichte.
Unser Rettungswagen hielt direkt vor der braun gemaserten Haustür. Mein Patient an jenem Morgen: ein 59-jähriger Mann mit dem Namen Franz. Er lag in seinem Bett, sein Körper gezeichnet von den Spuren eines Bronchialkarzinoms, das sich längst wie geschmolzene Lava im Körper ausgebreitet hatte.
„Tut mir leid, Jungs“, räusperte sich der Mann und versuchte ein Grinsen, „dass ich euch für so eine Kleinigkeit rufen musste.“ Er presste die Lippen aufeinander, als die nächste Schmerzwelle in seinem Beckenkamm einschlug. Seine Hände waren von unzähligen Stunden Arbeit gezeichnet. Die Adern auf dem Handrücken traten hervor wie die Linien eines alten Stadtplans. Ich sah, wie sich seine Finger in die Bettdecke krallten, und dass ich Schnee von draußen mit hineingetragen hatte.
„Schmerzen sind keine Kleinigkeit“, erwiderte ich. Der Raum roch nach altem Papier und der Schwere gelebter Jahre. Eine Filmkamera, so wie ich sie mir sicher niemals leisten könnte, stand auf einem Beistelltisch. Ein Wechselobjektiv lag daneben und zeigte auf uns, so als würde es jeden Moment blinzeln und die Szene für die Ewigkeit festhalten. Der Mann hob kaum den Kopf als wir nähertraten, aber seine Augen – dunkel, wach, von Falten umrahmt – erzählten Geschichten von der Welt, die er in seinem Beruf als Kameramann eingefangen hatte.
Franz schien kaum älter als ich. Er hatte sich bereits mittels Fentanylpflaster und -schmerztabletten versorgt. Trotzdem ließen die Schmerzen nicht von ihm ab. Unsere Optionen hielten sich in Grenzen. Die erste Möglichkeit, die ich in Betracht zog: Morphium in den Muskel und den Mann dann zu Hause lassen. Dies schien aber nicht möglich, da er sich noch in medizinischer Behandlung befand und das Palliativteam noch nicht für ihn zuständig war. Somit war eine Folgeversorgung nicht gewährleistet. Dazu hielt ich Morphium an dieser Stelle für zu schwach, nachdem bereits Fentanyl im Spiel war – und selbst das nicht mehr wirkte.
Die zweite Option: Fentanyl intravenös, dann in die Klinik, damit eine kontinuierliche Versorgung sichergestellt werden konnte. Wir forderten einen Notarzt nach, denn sowohl Morphium intramuskulär als auch eine unkalkulierbar überdimensionale Menge Fentanyl befinden sich außerhalb meines Spielfelds als Notfallsanitäter. Der Notarzt gab insgesamt 0,5 mg Fentanyl – Franz aber brach noch nicht mal mit der Sättigung ein. 0,5 mg Fentanyl könnte man als Elefantendosis bezeichnen. Ich als Opioid-naiver 90-Kilo-Mann dürfte nach einem Bolus von 0,2 mg bereits das Atmen einstellen.
„Jungs“, räusperte er sich, „es ist lustig, wie das Leben einem einen Streich spielt.“ Schweiß perlte von der Stirn ab. Er grinste, als ihm der Notarzt die rosafarbene Braunüle in die Haut stach. Dann endlich das Fentanyl als trügerische Erlösung in kleinen Dosen. Sein Blick verlor sich in den Lichtstreifen, die durch die Jalousien auf den Boden fielen. „Das Licht …“, murmelte er, „hat mich immer an den Morgen erinnert, als ich direkt in ihr stand. Ich dachte, ich sterbe in Fukushima.“ Wir hielten inne. Franz befand sich in Fukushima, um mit seiner Kamera Aufnahmen von den Folgen des Atomunglücks anzufertigen, als er in die Wolke radioaktiven Staubes geriet.
Während das Fentanyl seine Kanten weichzeichnete, erzählte er uns von dem Tag, der sein Leben für immer veränderte. Erinnerungen überfluteten seinen Geist. Er sah die zerstörten Gebäude, die leeren Straßen, die verlassenen Häuser. Er hörte die Stille, die über der Stadt lag und beängstigender war als jeder Lärm. Er traf auf die Menschen, die ihre Häuser verlassen mussten, sah die Angst in ihren Augen, die Verzweiflung in ihren Herzen. Und er sah die Gesichter der Helfer, die ihr Bestes taten, um den Opfern zu helfen, die Müdigkeit in ihren Gesichtern, die Hoffnungslosigkeit in ihren Augen.
„Es war wie in der Hölle“, sagte er und erzählte von dem bitteren Geschmack auf der Zunge, nachdem er die Radioaktivität eingeatmet hatte. „Ich wusste in dem Moment: Jetzt war’s das. Keine zehn Jahre mehr, dachte ich. Vielleicht fünf. Vielleicht weniger. Aber dass das Schicksal so lang warten würde, habe ich nicht gedacht.“ Er lachte fast nicht hörbar und in diesem Lachen lag kein Bedauern. „Tja. Man irrt sich eben manchmal.“ Wir schwiegen. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Manchmal gibt es nichts zu sagen.
„Ich habe Dinge gesehen, die man nicht sieht, wenn man sein Leben im Kreisverkehr verbringt.“ Franz erzählte seine Geschichte mit einer bemerkenswerten Gelassenheit, als sei es ein Kaleidoskop von Bildern und Momenten – ein Mix aus schneebedeckten Gipfeln des Himalaya, der endlosen Weite afrikanischer Savannen und den bunten Lichtern Tokios im geschäftigen Treiben der Stadt. Er schien mit seinem Leben im Reinen zu sein. „Insgesamt ist nicht immer alles glattgelaufen. Aber ich habe mein Leben gelebt. Und das ist mehr, als die meisten Menschen von sich behaupten können.“
Seine Worte trafen mich bis in meinen Kern. Wie oft rege ich mich über Kleinigkeiten auf, über Dinge, die im Angesicht eines Todes völlig bedeutungslos erscheinen. Wie oft vergesse ich, das Leben in all seinen Facetten zu genießen, die Schönheit des Augenblicks zu schätzen und es nicht einfach nur wie eine Agenda abzuarbeiten. Wir verschieben unsere Träume auf das Morgen, als hätten wir die Ewigkeit gepachtet, während uns das Heute wie feiner Sand durch die Finger rinnt. Wir wüten in kleinen Kriegen um Belangloses, nur um später vor den Trümmern unserer verschwendeten Stunden zu stehen und uns zu fragen, wofür all das gut war.
Unser Körper scheint uns unverwundbar, bis er plötzlich knirscht und bricht. Unsere Tage wirken unendlich, bis wir uns an einer Klippe wiederfinden, von der aus wir in einen düsteren Abgrund blicken. Dann begreifen wir, dass uns nicht mehr viele Sprünge bleiben und dass die Zeit ein rauschender Fluss ist, der uns mitreißt – ob wir wollen oder nicht. Vielleicht ist genau jetzt der Moment, innezuhalten und den Herzschlag zu spüren, der uns Tag für Tag am Leben hält und zu erkennen, dass unsere Gesundheit keine Garantie, sondern ein kostbares Gut ist, das wir jeden Tag aufs Neue verteidigen und schätzen müssen.
Sein Blick wanderte zur Decke, dann zu mir. Er sah mich an. „Weißt du, was das Absurde ist? Mein ganzes Leben habe ich mich gefragt, ob ich genug leiste. Ob ich groß genug träume. Ob ich das Beste aus meiner Zeit mache. Und jetzt, wo es wirklich in die Zielgerade geht, merke ich, dass ich das alles geschafft habe. Aber trotzdem will ich am Ende nur noch eins.“ Er presste die Lippen aufeinander, während eine weitere Schmerzspitze durch seinen Körper fuhr. „Dass es einfach nicht mehr wehtut.“ Die Worte verharrten in der Stille wie ein Gewicht, das den Atem nimmt. Das Fentanyl wirkte. Seine Züge entspannten sich, das Atmen fiel ihm leichter, er schloss seine Augen. „Danke, Jungs“, sagte er.
Draußen fiel das Licht der Sonne durch die halb geschlossenen Jalousien, warf Streifen auf seinen Körper. Sie wirkten wie eine Filmszene aus Momentaufnahmen eines Lebens, das nicht vergeudet war. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass Franz das Licht hinter seinen Lidern noch sehen konnte.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney