Menschen mit einer Psychose nehmen die Realität oft verzerrt wahr. Welche Ausmaße das Misstrauen in die eigene Wahrnehmung annehmen kann und wie ich damit umgehe, lest ihr hier.
„Die Tauben! Da drüben auf dem Dach! Sie wissen es. Sie wissen von der Satellitenstrahlung, die durch die Stratosphäre geschickt wird, um uns zu manipulieren mit unseren Smartphones. Und wir sind dumm genug und fressen das Ganze. Sie wissen es. Wissen. Wissen ist Macht und der mächtigste Mensch der Welt ist Bezos. Der arbeitet für die Illuminaten, nicht für die US-Regierung und die Illuminaten arbeiten für die Kirche beziehungsweise andersherum, diekirchearbeitetfürdieilluminatendenpapstundputin, ALLESISTINFILTRIERT…!“
Laut Lehrbuch kein Fall für den Psychologen: Psychosen werden in erster Linie medikamentös, in jedem Fall aber durch einen Psychiater behandelt. Da ist z. B. der Herr Kutschenreuther. Ein ukrainisch-russischer Geheimdoppelagent, der nur schwer ertragen kann, mit welch dumm-naiver Lethargie wir hier drinnen alle die Tatsache ignorieren, dass die anderen Hafträume von schlecht getarnten US-Spionen und Doppelagenten bevölkert sind. Er versteht sich gut mit dem Reichsbürger der Nachbarstation. Manchmal spielen sie Schach und diskutieren weltpolitische Themen. Folgendermaßen muss man sich das vorstellen:
Herr Kutschenreuther: „Diese Ignoranz, mit der die Leute hier drinnen über den Gang wandeln, ist unerträglich. Hauptsache, das Maul halten und kuschen, so wollen sie das, die Amerikaner, Maul halten und kuschen …. Das wird uns sowas von ins Verderben stürzen und keiner hört zu. Aber die werden schon sehen, werden schon noch sehen, wenn es so weit ist – du bist dran.“
Der Reichsbürger: „Das Problem ist, dass seit dem deutschen Kaiserreich Deutschland lediglich durch eine kommissarische Reichsregierung vertreten wird. Und die Herrschaften, die nach dem zweiten Weltkrieg die BRD GmbH gegründet haben, bestehlen uns seit Jahrzehnten. Und dann halten sie uns hier auch noch widerrechtlich fest. Hast du deine Anzeige wegen Freiheitsberaubung jetzt schon geschrieben, Martin? Lass mich nochmal drüberschauen, bevor du die aufgibst – du bist. “
Herr Kutschenreuther: „Du hast so wenig Ahnung! Dass die uns bestehlen, ist unser geringstes Problem! Die wollen unsere Organe!!! Meine Leber ist bereits infiltriert!!!“
Der Reichsbürger: „?“
Herr Kutschenreuther springt auf, holt ein Blatt Papier. Auf dem schmalen Tisch in dem neun Quadratmeter großen Haftraum des Reichsbürgers ist neben dem Schachbrett kaum Platz. Herr Kutschenreuther ist ein stark übergewichtiger Mann mit ungepflegtem Acht-Tage-Bart. Seine schwammigen Wangen wackeln, wenn er sich eilig bewegt. Seine Körpermasse lässt nicht zu, dass er sich auf die fest verschraubte Sitzbank frontal vor dem Tisch platzieren könnte. Er setzt also die linke Pobacke auf dem Bänkchen ab, das rechte Bein gegen den Bettpfosten am Boden gestemmt, um sich zu stabilisieren. Er kritzelt Skizzen mit der Ernsthaftigkeit eines Kleinkindes auf ein Blatt, welches seinen Eltern eine Schatzkarte zeichnet und die nur für ihn einen Sinn ergeben.
„Kapierst du jetzt, was ich meine? Wir sind gefickt!!!“
Der Reichsbürger: „Sie nennen es Steuern. Aber wie kann ein völker- und verfassungsrechtlich illegales System Steuern erheben. Das ist ein reiner Diebstahl, sonst nichts. Darauf steht die Todesstrafe. Das wird sich alles regeln, wenn die Selbstverwalter endlich …“
Herr Kutschenreuther: „EISEN!!! Die Leber ist das Organ mit dem größten Gehalt an Eisen, weshalb sie für die Amerikaner von besonderer Bedeutung ist. Die Eisenerzvorkommen in Amerika schmelzen dahin, Trump hat das erkannt und Selenskyj ein Angebot gemacht. Hier kollidieren aber die Interessen mit den Russen, die auf dasselbe Organ spekulieren, weil sich nichts so leicht vermikrochipen lässt wie die Leber. Ich wurde bereits viermal vermikrochipt. Schau!!!“
Herr Kutschenreuther zieht mit erwartungsvollem Blick sein graublaues überdimensionales T-Shirt nach oben. Die Fettschürze über seinem Hosenbund gleicht einem frisch aufgegangenen blassen Hefeteig, der in einen Haufen gekräuselter schwarzer Haare gefallen ist. Euch ist an dieser Stelle sicherlich längst klar, dass Herr Kutschenreuther kein Doppelagent ist, sondern an einer Psychose leidet.
Wir unterscheiden bei einer Psychose zwischen sogenannten Positivsymptomen (Dinge, die nicht da sein sollten, sind da), wie Wahnstörungen und Halluzinationen, und Negativsymptomen (Dinge, die da sein sollten, sind nicht da), wie Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug und Anhedonie. Im letzteren Fall werden die Patienten antriebsschwach, freudlos, meiden Kontakte und verwahrlosen. Solche Symptome sind im Gefängnis für die Bediensteten eher praktisch – und gleichzeitig sehr gefährlich. Wer nicht stört, wird nicht gesehen. Wer nicht gesehen wird, dem wird nicht geholfen. Man braucht schon einen sehr aufmerksamen und engagierten AvDler, der die Psychologin ruft, weil ein Gefangener seit einer Woche nicht duschen war oder „traurig“ wirkt.
Man kann sich vorstellen, dass eine Negativsymptomatik auch die Folge einer Positivsymptomatik sein kann. Das Kaffeetrinken mit Freunden macht halt nicht mehr ganz so viel Spaß, wenn im Kopf in voller Lautstärke „Radio Hitler“ läuft. Auch imperative Stimmen tragen nicht zur Geselligkeit bei. Es kann durchaus irritierend wirken, wenn man während eines Dates oder eines netten Restaurantbesuchs von einer Stimme unablässig angewiesen wird, allen Anwesenden mit einem Stift die Augen auszustechen. Der Patient zieht sich zurück, bricht soziale Kontakte ab und verfällt in depressive Stimmung.
Außer der Negativ- und der Positivsymptomatik tritt häufig noch eine kognitive Symptomatik auf. Es werden z. B. bizarre Kausalitäten gebildet (wenn ich den Fernseher ausschalte, hört mein Herz auf, zu schlagen) oder es treten Ich-Störungen auf. In diesem Fall verschwimmt die Grenze zwischen dem Ich und der Außenwelt. Die Patienten sind sich sicher, durch andere Personen gesteuert zu werden, nicht mehr Herr über sich selbst, die Gedanken und Handlungen zu sein. Man kann sich diesen Zustand als höchst beängstigend und verstörend vorstellen. Vor einigen Jahren betreute ich einen Mann, der überzeugt war, eine dritte Person pflanze ihm pädophile Gedanken in seinen Kopf. Er litt unter diesen Gedanken und war wie besessen davon, den „Steuermann“ ausfindig zu machen.
Ich veranschauliche das Ganze durch ein Gedankenexperiment: Stell dir vor, du wachst morgens auf. Aber du bist nicht in deinem Schlafzimmer, in dem du dich gestern Abend schlafen gelegt hast. Alles fühlt sich fremd an. Die einzelnen Gegenstände im Raum sind dieselben wie immer, aber irgendwie doch nicht. Als hätte jemand Kopien angefertigt, um dich zu täuschen. Panik steigt in dir hoch. Du versuchst, dich zu beruhigen, gehst ins Bad, doch der Weg ist nicht mehr derselbe.
Deine Katze, die gestern noch schnurrend auf deiner Brust eingeschlafen ist, funkelt dich an. Ihr Fellschnäuzchen verzerrt sich zur Fratze. Zähne blitzen darunter wie die Waffen eines überdimensionalen Tigers. Sie sieht sich selbst nicht mehr ähnlich. Ihr Blick bleibt eingefroren – bis sich die Muskeln straffen. Ein Sprung und sie könnte dein Gesicht zerfetzen. Du weißt nicht, was in sie gefahren ist und schlägst die Badezimmertür zu. Das Vieh schreit, als würde dir eine Rasierklinge den Rücken hinunterschneiden. Sie kratzt mit der Pfote an der Tür – für dich ist klar, dass sie dich schwer verletzen, vielleicht sogar töten wird, wenn du jetzt die Tür öffnest.
Panik schießt in dir hoch wie heiße Lava in einem Vulkan kurz vor einer gewaltigen Eruption. Du weinst. Vielleicht hilft eine Dusche. Wasser an. Das tut gut. Das Wasser fühlt sich … grün an? Du versuchst, dich zu sortieren, doch je mehr du darüber nachdenkst, umso karierter wird das Wasser. Du willst die Dusche verlassen, doch dazu müsstest du erst die Duschwand abschmecken und der Zucker ist unten in der Küche und dafür müsstest du an der Katze vorbei – und das wäre lebensgefährlich.
Nichts stimmt mehr. Nichts funktioniert mehr. Du sitzt in der Dusche und weinst, das karierte Wasser schlägt dir auf den Kopf und verschmutzt die viel zu salzige Duschwand. Was sich wie ein Absatz in einem Kafka-Roman liest, ist die Realität eines Psychotikers.
Man kann übrigens vergessen, einem Psychotiker mit Logik zu kommen. Er wird dich entweder widerlegen oder spontan seine Wahntheorie ändern. Auch mit der Psychose mitzugehen, um eine Einigung herbeizuführen, ist keine gute Idee. So verlockend es wäre, Herrn Kutschenreuther beispielsweise ein Glas Traubensaft zu bringen und ihm zu erklären, dass dieser Trank den Eisengehalt in der Leber signifikant herabsetzt und das Organ somit für die Amerikaner unbrauchbar macht – es würde rein gar nichts bewirken. Spätestens morgen hätte Herr Kutschenreuther auf eine andere wahnhafte Idee gewechselt. Darüber hinaus wird er sich in seinem Wahn bestätigt fühlen, denn „sogar die Angestellten hier wissen von der Infiltrierung der Amerikaner“.
Ganz schlecht ist es, sich über einen Psychotiker lustig zu machen. Das klingt selbstverständlich, aber wenn ihr mal Jesus und Gott zur selben Zeit auf dem Gang liegen habt, fällt es plötzlich gar nicht mehr so leicht, ernst zu bleiben. Die beiden fanden das im Übrigen mitnichten absurd, aufeinander zu treffen. Sie nahmen sich jedoch nicht als Vater und Sohn wahr. Wahnhafte Gebilde sind über logische Brüche erhaben.
Eine Psychose kann nicht durch Gespräche geheilt werden. Die klassische und erfolgversprechendste Behandlung ist eine medikamentöse. Ihr könnt euch aber vorstellen, dass die Bereitschaft von Patienten wie Herrn Kutschenreuther, regelmäßig Medikamente einzunehmen, die ihm von den Statisten seines schizophrenen Wahnsystems verabreicht werden, doch eher gering ist. Im Falle von Herrn Kutschenreuther bekommt er die Medikamente von den Mitarbeitern der US-Behörde, die es auf seine Leber abgesehen haben. Und hier kommen die Psychologen ins Spiel. Deren Aufgabe ist es, „Compliance herzustellen“ – also den Patienten dazu zu bewegen, dass er seine Medikamente einnimmt. Und zwar möglichst regelmäßig, denn Antipsychotika müssen einen Spiegel im Körper bilden. Fällt dieser, gewinnen die Dämonen im Kopf die Oberhand und die Chance, dass der Patient seine Medis nimmt, fällt weiter und weiter.
Das Zauberwort heißt Beziehungskonstanz. In einer Psychose gerät alles durcheinander. Alle Grenzen, die wir Gesunden als selbstverständlich erachten, verschwimmen. Mir und euch ist klar, welche Worte wir gesagt und welche wir nur gedacht haben. In einer Psychose ist dem unter Umständen nicht mehr so. Der Patient ist z. B. überzeugt, dass seine Gedanken oder Körperfunktionen wie Harndrang, Schwitzen etc. von außen gesteuert werden können (Ich-Störung). Dies ist zutiefst beängstigend. Je mehr Klarheit und Konstanz ich meinem Patienten also bieten kann, umso besser.
In der Praxis sieht die ganze „Behandlung“ durch den Psychologen nun weit weniger spektakulär aus, als uns Das Schweigen der Lämmer suggerieren möchte. Im Grunde versuche ich einfach, so oft wie möglich mit meinem psychotischen Klienten zu sprechen. Häufig auch nur kurz auf dem Gang oder an der Kostklappe. Ich vermittle ihm, dass ich da bin und wiederkomme. Die Inhalte der Gespräche sind zweitrangig. Ich mache immer wieder klar, dass ich die wahnhaften Fantasien nicht teile, aber verstehe, wie sehr der Patient durch diese belastet ist. Klingt einfach? Ist es nur so lange, bis das Ganze das erste Mal kippt. Bis man beschimpft, bedroht oder sogar angespuckt oder beworfen wird.
Die Zeit nach einer solchen Eskalation zählt. Beziehungskonstanz. Man geht die Woche darauf wieder hin. Man nimmt den Kontakt wieder auf. Man nimmt es nicht persönlich. Man ist professionell. So lernt der Patient, dass er sich auf mich verlassen kann. Ich werde zu einer Konstante und habe so eine kleine Chance, Einfluss auf ihn zu nehmen.
Ich schaffe das nicht immer. Da ist zum Beispiel Herr Vogel, ich habe bereits früher einmal über ihn geschrieben. Herr Vogel ist ein knapp zwei Meter großer Fleischberg, Gesicht und Glatze tätowiert, mit einer massiven schizoaffektiven Störung. Er hat die Impulskontrolle eines hungrigen Vierjährigen, der zwei Nächte nicht geschlafen hat und die Frustrationstoleranz einer pubertierenden 15-Jährigen. Ich habe oft Angst vor ihm und das merkt er. Er findet das großartig, denn zusätzlich hat er starke narzisstische Anteile – und eine ängstliche Frau gibt ihm das Gefühl von Macht und Kontrolle.
Ich reagiere leider häufig mit Vermeidung, schicke dann einen Kollegen. Das wiederum enttäuscht ihn. In Zeiten, in denen ich den Kontakt konsequent aufrechterhalte, kann ich gut mit ihm verhandeln. In seinem Fall: Gespräche gibt es nur, solange er seine Medikamente nimmt. Je mehr ich den Kontakt vermeide, umso schwieriger wird dieser. Herr Vogel wird provokant, beleidigend und aggressiv. Ich wiederum finde dann Ausreden, warum ich es heute und morgen und die ganze Woche nicht schaffe, bei ihm vorbeizuschauen. Ich versuche, selbstbewusst zu wirken, aber wie viele Psychotiker hat Herr Vogel feine Antennen.
Und das bringt mich zu der Frage, wie gefährlich so eine Psychose überhaupt ist. Wann immer man in den Nachrichten von psychisch kranken Gewaltstraftätern liest, haben die gefühlt ein- und dieselbe Diagnose: schizophrene Psychose. Laut Lehrbuch werden die meisten Menschen in einer Psychose nicht gewalttätig gegenüber anderen. Hier herrscht allerdings eine Diskrepanz zu meinen Erfahrungen. Natürlich ist nicht jeder Psychotiker gefährlich. Die meisten würde ich als ängstlich-vermeidend beschreiben. Aber durch die veränderte Wahrnehmung der Patienten sind deren Reaktionen oft schwer einschätzbar. Sie sehen plötzlich Gefahr und werden daraufhin auch mal aggressiv. Und das bisweilen sehr unvermittelt. Besonders schwierig wird es, wenn man selbst ein Teil des Wahngebildes des Patienten wird. Diesen Prozess umzukehren, gleicht dem Versuch, Zahnpasta in die Tube zurückzudrücken. Häufig hilft hier nur noch ein Therapeutenwechsel.
Wie ich so die Mauern nach Feierabend hinter mir lasse, wird mir einmal mehr klar, dass Gesundheit eben nicht selbstverständlich ist. Nichts ist selbstverständlich. Noch nicht einmal, dass meine Gedanken in meinem Kopf bleiben, Wasser nass, der Himmel blau und der Weg, auf dem ich laufe, trittfest ist. Auch nicht, dass meine Katze mir nicht nach dem Leben trachtet. Wie so häufig, bin ich unendlich dankbar, als ich meinen vollkommen sortierten Heimweg antrete.
Bildquelle: Richard Bell, Unsplash