Ein Test, drei Gene: Mehr braucht es nicht, um bis zu 75 % aller vermeidbaren Nebenwirkungen zu verhindern. Warum wird diese Möglichkeit bisher kaum genutzt?
Jedes Jahr landen Tausende Menschen wegen Arzneimittel-Nebenwirkungen im Krankenhaus – und das oft völlig unnötig. In Deutschland sind es schätzungsweise 5 Prozent aller stationären Aufnahmen, bei älteren Patienten sogar etwa 10 Prozent. Wie ernst das Problem ist, zeigt eine Erhebung aus vier großen deutschen Notaufnahmen. Innerhalb von nur 30 Tagen wurden dort mehr als 10.000 Patienten untersucht – bei 6,5 Prozent lag eine mögliche, wahrscheinliche oder gesicherte unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) vor.
Die Ursachen sind komplex, doch nicht immer liegt es an Interaktionen, an Einnahmefehlern oder an Nebenwirkungen, die alle Patienten verspüren. Menschen reagieren unterschiedlich auf Wirkstoffe – je nach Genetik, Alter, Geschlecht, Körpergewicht, Leber- oder Nierenfunktion. Und das Erbgut – Stichwort Pharmakogenetik – spielt eine größere Rolle als angenommen, das zeigt eine neue, in PLOS Medicine veröffentlichte Studie.
Grafik KI-generiert
Über einen Zeitraum von 60 Jahren haben britische Arzneimittelbehörden mit dem Yellow-Card-System Daten zu Nebenwirkungen von Medikamenten gesammelt. In Deutschland sind dafür das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sowie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zuständig.
Jetzt haben britische Forscher über 1,3 Millionen solcher Berichte ausgewertet. Ihr Ergebnis: In 115.789 Fällen – also 9 Prozent – waren Medikamente im Spiel, deren Nebenwirkungsrisiko Ärzte durch genetische Informationen gut einschätzbar gewesen wäre. Besonders häufig waren CYP2C19, CYP2D6 und SLCO1B1 betroffen, also drei Gene, die maßgeblich den Abbau und die Verstoffwechselung von Medikamenten steuern. Vor allem Arzneimittel gegen psychische Erkrankungen (47 Prozent) und gegen Herz-Kreislauf-Leiden (24 Prozent) erwiesen sich als anfällig für genetisch bedingte Nebenwirkungen.
Die Studie zeigt, dass durch gezielte Tests auf die drei Gene rund 75 Prozent der genetisch beeinflussbaren Nebenwirkungen vermieden werden könnten. Besonders in der Psychiatrie bieten pharmakogenetische Tests ein großes Potenzial, um Nebenwirkungen zu reduzieren und die Therapie gezielter zu steuern.
CYP2C19
CYP2D6
SLCO1B1
CYP3A4 und CYP3A5
TPMT (Thiopurin-S-Methyltransferase)
DPYD (Dihydropyrimidin-Dehydrogenase)
Damit sind die Fakten klar, zumindest aus wissenschaftlicher Sicht. Doch trotz ihres medizinischen Potenzials kommen pharmakogenetische Tests in Deutschland bislang kaum in der Routineversorgung zum Einsatz. Ein Hauptgrund: Gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten in der Regel nicht. Nur in wenigen, klar definierten Fällen – etwa bei bestimmten Krebstherapien – hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Kostenübernahme beschlossen. Auch fehlen in den meisten Leitlinien Empfehlungen dazu.
Erschwerend kommt hinzu, dass das deutsche Gendiagnostikgesetz (GenDG) hohe Anforderungen an genetische Untersuchungen stellt, insbesondere beim Datenschutz und der informierten Einwilligung der Patienten. Patienten bleibt immer noch die Möglichkeit, Tests als Selbstzahler-Leistungen in Anspruch zu nehmen – nicht nur beim Arzt. Manche Apotheken bieten dies über externe Labore ebenfalls an.
Wenn pharmakogenetische Tests stärker in die medizinische Praxis eingebunden würden, hätte das gleich mehrere Vorteile: Ärzte könnten so manchen unerwünschten Effekt vermeiden, wenn sie Therapien besser auf die individuelle genetische Ausstattung abstimmen. Davon würde auch das Gesundheitssystem profitieren – durch wirksamere Behandlungen und Einsparungen bei den Kosten.
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