Etwa 8 Minuten bleiben Ärzten pro Patient. Kaum Zeit, fallbezogene Feinheiten wahrzunehmen. Die sogenannten Balint-Gruppen versuchen, diese Wahrnehmung zu schärfen. Im Interview verrät uns der Vorsitzende der Deutschen Balint-Gesellschaft, wie Balint-Gruppen funktionieren und warum schon Studierende davon profitieren.
London, nach Ende des zweiten Weltkrieges: Der ungarische Psychiater und Psychoanalytiker Michael Balint lädt in der Tavistock Clinic erstmals Sozialarbeiter zu einer gemeinsamen Fallkonferenz ein. Dabei lernen die Teilnehmer, basierend auf psychoanalytischen Theorien, unbewusste Prozesse ihrer Arbeit besser wahrzunehmen. Schon 1950 führt Balint ganz ähnliche Fallkonferenzen mit niedergelassenen Hausärzten durch. Die „Diskussionsseminare über psychische Probleme in der ärztlichen Praxis“ finden schnell Anklang: So erscheint 1954 ein erster Artikel im British Medical Journal und 1957 Balints Buch „The doctor, the patient and the illness“. Ziel ist, „die möglichst gründliche Untersuchung der ständig wechselnden Arzt-Patienten-Beziehung, das heißt, das Studium der Pharmakologie der Droge ‚Arzt‘“, so Balint. Das Konzept der Balint-Gruppen verbreitet sich schnell, sodass sich 1972 die International Balint Federation gründet. Heute vereint die weltweite Dachorganisation 23 nationale Balint-Gesellschaften. Eine davon ist die Deutsche Balint-Gesellschaft (DBG). Wir sprachen mit deren 1. Vorstandsvorsitzendem, Priv.-Doz. Dr. Günther Bergmann, über die Balint-Gruppen in Deutschland. DocCheck: Warum sollte man als Arzt eine Balint-Gruppe aufsuchen? Bergmann: Um ein besserer Arzt zu werden. Wir lernen heute vieles sehr gut und systematisch an den Universitäten, aber das Lernen über unsere Emotionen geht immer weiter zurück. Der Arzt-Patienten-Kontakt reduziert sich zunehmend auf sehr einfache Sequenzen. Damit sind Elemente des ärztlichen Handelns in Frage gestellt. Dem kann eine Balint-Gruppe entgegenwirken. Sie ermöglicht ein Verständnis der Arzt-Patienten-Beziehung und zeigt auf, was zwischen beiden passiert und was nicht passiert. Wir als Ärzte sind skotomisiert – in der Kommunikation haben wir einige blinde Flecken. DocCheck: Was ist denn ein klassischer blinder Fleck? Bergmann: In unserem psychodynamischen Grundverständnis sprechen wir hier von Übertragung und Gegenübertragung. Kommt beispielsweise ein junger Mann in die Praxis, so sieht der Arzt in ihm nicht nur den Patienten, sondern auch den Sohn, der dieser sein könnte. So übertragen wir Einstellungen und Erfahrungen von unseren eigenen Söhnen auf den Patienten. So sind wir in der Offenheit gegenüber dem individuellen Problem des Patienten eingeschränkt. DocCheck: Wie funktioniert eine Balint-Gruppe? Bergmann: In einer Balint-Gruppe treffen sich acht bis zwölf Ärzte unter Anleitung eines Balint-Gruppenleiters und erzählen über ihre „Fälle“. „Fälle“ meint hier Patientengeschichten, die sie in besonderer Weise bewegt oder irritiert haben. Dabei geht es nicht um Diagnosen oder medizinische Fakten, sondern um die emotionale Begegnung. So eine Vorstellung dauert etwa fünf bis zehn Minuten. Darauf geben die anderen Teilnehmer dem Referenten ein Feedback, was ihnen an der beschriebenen Beziehung von Arzt und Patient aufgefallen ist. Der Gruppenleiter fasst die Ergebnisse schließlich zusammen. Gemeinsam werden dann noch weitere Möglichkeiten des Denkens und Fühlens über diese Begegnung besprochen. Ziel ist, dass der Arzt für seine Interaktion mit dem Patienten eine neue Sichtweise erhält und sich verstanden und gegebenenfalls erleichtert fühlt. Jeder Fall wird etwa ein bis eineinhalb Stunden besprochen. DocCheck: Gibt es denn Voraussetzungen für die Teilnahme an einer Balint-Gruppe? Bergmann: Ja – Neugier! Sonst nichts. DocCheck: Wie präsent sind Balint-Gruppen in Deutschland? Bergmann: Wir haben zurzeit etwa 500 aktive Balint-Gruppenleiter, die von der Balint-Gesellschaft ausgebildet wurden und über ganz Deutschland verteilt sind. Hier kommen noch die sogenannten Psych-Fächer hinzu, bei denen häufig die Arbeit in einer Balint-Gruppe in der Weiterbildung verankert ist. Zudem gibt es regelmäßig Konferenzen und Tagungen, auf denen ein Austausch stattfinden kann. Eine große Balint-Tagung findet z. B. vom 26. - 30. November in Würzburg statt. Hierzu sind auch Studierende herzlich eingeladen. Ein Schnuppertag für Studierende findet am Samstag, den 29.11.2014 statt. DocCheck: Wie viele Mitglieder haben die Balint-Gruppen in Deutschland? Bergmann: Zwischen 5.000 bis 10.000 Ärzte sind aktiv in unseren Gruppen. Dazu kommen noch die Teilnehmer auf den Tagungen. DocCheck: Wann sollten Ärzte Ihr Angebot nutzen? Bergmann: Ärzte sollten Balint-Gruppen aufsuchen, wenn ich als Arzt mehr von der Erkrankung, dem sozialen Umfeld und der Interaktion verstehen will. Der wohl wichtigste Grund ist aber, wenn ich als Arzt den Eindruck habe, dass ich mich nicht mehr so dem Patienten zuwenden kann, wie ich es gerne tun würde. Spätestens wenn ich erste Symptome eines Burnout-Syndroms bei mir feststelle, sollte ich über die Teilnahme an einer Balint-Gruppe nachdenken. Ärzte besuchen selbstverständlich auch Balint-Gruppen, wenn es Teil ihrer Facharztweiterbildung ist. Letztlich geht es um den Unterschied in der Zielsetzung, ob ich „Mediziner“ oder „Arzt“ sein möchte. DocCheck: Welche Vorurteile gibt es gegen Balint-Gruppen und was halten Sie diesen entgegen? Bergmann: Die Vorurteile gehen vor allem in die Richtung, „Was soll dieser ‚Psycho-Kram‘, so etwas brauch ich nicht.“ Das ist aus meiner Sicht kein Vorurteil, sondern eine Abwehr. Also eigentlich ein Zeichen, das eher für den Besuch einer Balint-Gruppe sprechen würde. Solchen Ärzten scheint es schwerzufallen, sich vorübergehend auf eine vertiefte Arzt-Patienten-Begegnung einzulassen. Ein weiteres Vorurteil ist die Annahme, dass es eine klassische medizinische Fallkonferenz mit Diagnose und Therapieentscheidung sei. Damit haben Balint-Gruppen nichts zu tun. Es geht vielmehr darum, was das spezifisch Ärztliche ausmacht: Sich dem Patienten in einer ihm angemessenen Form zuzuwenden und so sein Symptom und sein Anliegen in umfassender Form zu verstehen. DocCheck: Balint-Gruppen arbeiten auf der Theorie von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie. Wie schaffen Sie es, dieses abstrakte Konstrukt auch Internisten, Chirurgen oder Allgemeinmedizinern zugänglich zu machen? Bergmann: Indem wir eine angemessene Sprache finden und indem deutlich wird, dass es um das geht, was im täglichen Kontakt von Arzt und Patient erfolgreich ist. Es geht nicht um die großen psychologisch-theoretischen Fragen, sondern um kleine Zeichen, Symptome und Auffälligkeiten. Es geht nicht um Therapie und Indikationsstellung, sondern um folgende einfache Frage: Was kann ich tun, dass ich meinen Patienten verstehe und dass mein Patient mich versteht und dass die Interaktion von beiden als gelungen erlebt wird? Der Arzt wirkt wie ein Placebo (M. Balint). Diese Wirkung sollten wir nutzen. DocCheck: Balint-Gruppen richten sich also nicht nur an die klassischen Psych-Fächer? Bergmann: Nein, genau das ist es nicht. Die Ursprungsidee von Michael Balint war, Anfang der 1950er Jahre in London ein Treffen von niedergelassenen Allgemeinmedizinern zu initiieren, welches durch einen Psychoanalytiker supervidiert wird. In Deutschland überwiegen aufgrund des Pflichtanteils in der Weiterbildung häufig die Psych-Fächer in den Balint-Gruppen. In anderen europäischen Ländern hingegen ist der Anteil von Allgemeinmedizinern deutlich höher. DocCheck: In Balint-Gruppen sollen vor allem „schwierige Patienten“ besprochen werden. Was ist ein „schwieriger Patient“? Bergmann: Da gibt es viele Möglichkeiten: Ein schwieriger Patient kann ein Patient sein, der, obwohl es scheinbar keine Behandlungsoptionen mehr gibt, ständig wiederkommt. Schwierig ist auch der Patient, der mich aufregt und für den ich mir eigentlich keine Zeit nehmen will. Auch Patienten ohne tatsächliches Anliegen, aber mit einer langen Vorgeschichte an Behandlungen und Untersuchungen, können für den Arzt herausfordernd sein. Nicht zuletzt gehören hierzu auch Patienten mit einer chronischen Erkrankung und palliativ zu betreuende Patienten. Grundsätzlich sind die Patienten schwierig, die ich als Arzt nicht verstehen kann oder will. DocCheck: Sollten auch Studierende zu Balint-Gruppentreffs gehen? Bergmann: Ja – die Balint-Gruppe sollte für Studierende ein „Muss“ sein. Daher werden an vielen Unis mittlerweile auch Balint-Gruppen angeboten. Ein studentischer Vorläufer der Balint-Gruppe sind die sog. Anamnese-Gruppen. Zudem gibt es noch die Junior-Balint-Gruppen, welche sich in besonderem Maße an Studierende im klinischen Bereich richten. Leider sind Balint-Gruppen bis heute nicht verpflichtend in die Curricula integriert und die Studierenden haben nur wenig Zeit für fakultative Veranstaltungen. DocCheck: Studierende haben aber doch zunächst keine eigenen Patienten. Warum ist der Besuch von Balint-Gruppen dennoch sinnvoll? Bergmann: Jeder Student kommt im klinischen Studienabschnitt über Famulaturen oder den Unterricht am Krankenbett schnell in den Kontakt mit Patienten. Und diese Begegnungen können eingebracht werden. So erreicht man bereits früh ein Verständnis und ein Bewusstsein für die Arzt-Patienten-Beziehung. DocCheck: Lernen Studierende zu wenig, gut zu kommunizieren? Bergmann: Dieser Eindruck bestätigt sich bei mir mehr und mehr. Durch die gesamte curriculare Verschulung haben zunehmend das Selbstbewusstsein und die Eigenständigkeit des Denkens zu wenig Raum. DocCheck: In Zukunft sollen Kommunikationskompetenzen im Studium longitudinal, also als Längsschnitt, vermittelt werden. Wie bewerten Sie die longitudinale Einbindung von Kommunikationskompetenzen in das medizinische Curriculum? Bergmann: Grundsätzlich ist das sehr zu begrüßen. Nun muss man aber auch auf Details schauen: Es darf kein einseitiges kognitiv-didaktisches Programm sein. Vielmehr muss der Unterricht erlebnisnah und praxisbezogen gestaltet werden. Dazu würde zum Beispiel auch die Balint-Arbeit dienen. DocCheck: Herr Dr. Bergmann, bitte ziehen Sie folgendes Fazit: Welchen Nutzen haben Balint-Gruppen für Ärzte, Studierende und Patienten? Bergmann: Balint-Gruppen schärfen unsere Wahrnehmung für unsere eigenen Emotionen und für das, was in der Arzt-Patienten-Interaktion bewusst und vorbewusst geschieht. Das ist notwendig, um die blinden Flecken in einem Gespräch zwischen Patient und Arzt zu erhellen. Ein Nebeneffekt für Ärzte ist hierbei die Burnout-Prävention. Studierende können diese Sensibilität schon innerhalb der Ausbildung erlangen, um später beim Berufseinstieg viel mehr Sicherheit im Umgang mit Patienten zu finden. So können sich auch schon junge Ärzte den Bedürfnissen des Patienten eher zuwenden. Interesse geweckt? Balint-Gruppen finden sich in allen Unistädten. Eine Übersicht über die Gruppenleiter und die angebotenen Balint-Gruppen-Treffs findet Ihr hier.