Patienten in einer manischen Phase verspüren keinen Leidensdruck – das macht die Behandlung so herausfordernd. Wie es im Kopf eines Betroffenen aussehen könnte und wie man ihn vor sich selbst schützen kann.
„Die Postleitzahl von Benediktbeuern!!!“ Der Typ in der blauen Uniform steht vor Ihnen, sieht aber mit leerem Blick durch Sie hindurch. Er bewegt sich so träge, als steckten alle seine Gliedmaßen in flüssigem Kautschuk fest. Sie könnten ausflippen. „Herrgott, wieso ist nicht EIN EINZIGER Mensch hier drinnen in der Lage, meinen Gedanken zu folgen?“ Sie fühlen sich, als säßen Sie in einem 400 PS starken Boliden auf der Autobahn – und stecken seit zehn Kilometern hinter einem Fiat Panda fest, der vor Ihnen die linke Spur blockiert.
„Ich brauche die Postleitzahl von Benediktbeuern, ich muss mein Business aufrechterhalten, die Kundenkontakte maintainen sich nicht von selbst, ich habe über 300 Kunden zu betreuen – ichunterhaltedasgrößteonlinebewertungsportalindeutschland ach was, DER WELT!“ Sie merken, dass Sie schon wieder zu schnell sprechen. Das Problem haben Sie häufig. Aber es sind so viele Worte und so wenig Zeit. Und alle anderen sind so langsam!
Sie fühlen sich gut. SAUGUT. Sie haben viel geschafft in letzter Zeit – und insgesamt in Ihrem Leben. Weil Sie eben einfach klüger sind als der ganze Rest. Es gibt kaum jemanden, der so schnell denken und so klug handeln kann wie Sie. Ihre Umwelt hat damit manchmal Schwierigkeiten. Intellektuell trennen euch aber auch Welten. Da können die anderen nichts für, das ist klar. Trotzdem ist es sehr anstrengend, ständig unter dem eigenen Niveau argumentieren zu müssen.
Dieser stumpfe Beamte steht immer noch vor Ihnen, als wäre er geistig behindert. Sie werden zunehmend gereizt. Er stiehlt Ihre Zeit. Ihre wertvolle Zeit. Jede Sekunde, die Sie hier stehen, wird Ihre wertvolle und solitäre Arbeits- und Geisteskraft verschwendet, nur weil der Typ zu blöd ist, auf die simpelsten Angaben zu reagieren. Eine rasende Wut steigt in Ihnen auf. Ihnen wird heiß, Ihre Ohren rauschen.
Ihr Gehirn, Ihr wertvolles Gehirn scheint sich auszudehnen und von innen gegen Ihre Schädelkalotte zu drücken. Selbstverständlich ist Ihnen klar, dass dies aufgrund der Blutdrucksteigerung passiert. Sie sind ja intelligent. Hochintelligent. Dennoch fühlt es sich an, als wolle dieses hochentwickelte Organ seinen Käfig sprengen. All der Druck und die Wut entladen sich in einer viel zu lautstarken Schimpfkanonade: „OBSIEVÖLLIGVERBLÖDETSINDSIEGEISTIGBEHINDERTERTROTTEL?! GIBTESHIERIRGENDWENDERINDERLAGEISTEINEINFACHEANWEISUNGAUSZUFÜHREN?!“
Ein zweiter Beamter kommt hinzu. Er spricht. Unerträglich langsam, aber er spricht: „Herr Aschenbrenner, sprechen’s bittschön ordentlich mit uns, wir sprechen schließlich auch ordentlich mit Ihnen.“
„Herrgott, ich ertrage das nicht mehr. Ich bin umgeben von lauter scheintoten Vollidioten.“ Haben Sie das gerade gedacht oder gesagt? Egal. Am besten erklären Sie dem zweiten Beamten das ganze Problem, der scheint ein Stückchen heller zu sein. „Mein Unternehmen. Draußen. Natürlichdraußenwerkönntedennschonhierdrinneneinunternehmenaufbauen.“
Langsam sprechen. „Ich leite mein Onlinenetworkingvergleichsportal von hier drinnen weiter, wie Sie wissen.“ Oh Gott, so wie der schaut, begreift der nichts. Die Worte ergreifen erneut die Kontrolle. Sie schießen aus Ihrem Mund wie Cola aus einer Flasche, die man zuvor herzhaft geschüttelt hat. Sie merken bereits, während Sie sprechen, dass niemand Ihnen geistig folgen kann. Intelligenz ist wirklich eine Bürde. Sie sind unbesiegbar.
„Herr Aschenbrenner, morgen haben’s eh an Termin beim Psychiater. Ich würd jetzt die Frau Pisch, die Psychologin rufen – vielleicht kann die Ihnen helfen.“„DIESE STUMPFE KUH?!“, entfährt es Ihnen. „Die kapiert nichtsnixgarnix. Beim letzten Mal hat sie mich in einertourunterbrochen und von meiner Idee zum Aufbau eines Weltweitenonlinenetworkingmarketingvergleichsportalmonopols wollte sie erst gar nichts wissen.“
Sie haben eine Manie. Sie fühlen sich großartig. Nur Ihre Umwelt reagiert komisch auf Sie. Sie kommen nicht immer gut klar, Sie sind aber überzeugt, dass dies daran liegt, dass alle anderen zu langsam, zu dumm und zu unbeweglich sind. Allerdings tun Sie Dinge, die Ihnen später Schwierigkeiten machen: Sie geben mehr Geld aus, als Sie haben. Sie sammeln eine beträchtliche Summe an Strafzetteln, weil Sie mit ihrem Auto wie ein Geisteskranker durch die Gegend heizen. Sie haben jede Nacht zahlreiche und wahllose sexuelle Kontakte. Sie schlafen eigentlich mit jedem, der willig ist. Über Verhütung machen Sie sich selbstverständlich keine Gedanken.
Andererseits geraten Sie mit beinahe jedem Menschen in Ihrer Umgebung in Streit. Sie werden dabei auch gewalttätig, haben aber nie das Gefühl, dass Sie dabei im Unrecht sind. Ihr Dopamin- und Noradrenalin-Spiegel ist deutlich erhöht. Sie schlafen kaum noch, weil Sie einfach nicht müde sind. Ohne eine Behandlung mit Neuroleptika wie Haloperidol, Quetiapin o. ä. werden bald einige Bereiche Ihres Gehirns überlastet sein und Sie werden möglicherweise zusätzlich eine Psychose entwickeln. Es stellt sich z. B. eine Ich-Störung ein. Sie können plötzlich nicht mehr unterscheiden, was Sie gesagt und was nur gedacht haben.
Einzelne Menschen aus Ihrer Umwelt sehen Ihre Gedanken und pflanzen Ihnen neue ein. Das ist verstörend und beängstigend. Sie entwickeln einen Verfolgungswahn, weil Sie davon ausgehen müssen, dass jeder Mensch aus Ihrer Umgebung Ihre Gedanken und Ihre Stimmung manipulieren kann.
Wahrscheinlich leiden Sie an einer bipolaren Störung, denn unipolare Manien sind sehr selten. Sie werden also nicht ewig in dieser Hochphase verweilen. Nach einigen Tagen bis Wochen ist in der Regel Schicht mit der Hochphase und die Depression wird sich einstellen. Ihr Dopaminspiegel fällt und nachdem Ihr Neurotransmitter-Haushalt sowieso nachhaltig gestört ist, wird Ihr Gehirn nicht in der Lage sein, Ihre Stimmung zu stabilisieren. Sie fallen in ein affektives Tief. Sie stehen vor dem Scherbenhaufen, den Sie in Ihrer manischen Phase verursacht haben. Freunde haben sich abgewendet, Sie sind verschuldet, haben eine Anzeige und ein Jucken im Intimbereich.
Dopamin, Serotonin und Noradrenalin sind inzwischen völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Ihr Gehirn bekommt die Affektregulation nicht mehr selbstständig in den Griff. Sie können aber auch nicht einfach Antidepressiva nehmen, denn die würden unter Umständen die nächste manische Phase triggern. Ohne einen guten Psychiater, der Ihnen stimmungsstabilisierende Medikamente wie z. B. Lithium, Olanzapin o. ä. verschreibt, rutschen Sie in eine Spirale aus Antriebsschwäche und Dysphorie.
Möglicherweise gesellen sich auch noch psychosomatische Schmerzen, Schlaflosigkeit und Angst hinzu. Sie gehen nicht mehr aus dem Haus und meiden Kontakte. Und weil Sie sich in den letzten Wochen benommen haben wie ein asozialer Kotzbrocken, gibt es auch niemanden, der sich nach Ihnen erkundigen würde. Sie verwahrlosen zunehmend und versauern in Ihrer stinkenden, trüben Brühe der Depression. Bis sich die nächste manische Phase einstellt.
Nicht jedoch für Herrn Aschenbrenner. Er ist inhaftiert. Er wird gesehen und er bekommt Hilfe. Die stumpfe Kuh von Anstaltspsychologin wird penetrant versuchen, einen Zugang zu dem unangenehmen Gefangenen zu finden und ihn im Rahmen seiner nächsten depressiven Phase vielleicht sogar überzeugen können, seine Medikamente zu nehmen. Der Psychiater wird den Gefangenen regelmäßig einbestellen, um die Medikation zu überprüfen. Und unsere Beamten werden täglich ein waches Auge auf die Stimmung und das Verhalten unseres Patienten haben. Höchstwahrscheinlich wird sogar die Sozialarbeiterin die Postleitzahl von Benediktbeuern heraussuchen. Und zu guter Letzt hält sich der Schaden, den er hier in seinen manischen Phasen anrichten kann, aus strukturellen Gründen in Grenzen.
Niemand hier wird sich abwenden. Nicht der „geistig behinderte Beamte“, nicht die „stumpfe Kuh“. Wir werden alle auch morgen wieder den Kontakt zu ihm suchen. Und so wird die Inhaftierung von seinem persönlichen Armageddon zu seiner vielleicht letzten Rettung.
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