Ein kleiner Junge kommt mit seinen Eltern in meine Praxis. Vorstellungsgrund: eine Blutung am Penis. Schuld ist aber nicht er selbst – sondern merkwürdige, veraltete Praktiken.
Vorgestellt wird ein 4-Jähriger – „in Vertretung“, da wir gerade während der Osterferien Patienten anderer Praxen übernehmen, die dringend einen Kinder- und Jugendarzt benötigen. Aktuell vertreten wir übrigens vier Praxen der näheren Umgebung, was dazu führt, dass wir an normalen Tagen mehr kleine Patienten von Kollegen sehen als eigene.
Der Kleine hat am Penis geblutet. Wohl sogar ordentlich, jedenfalls seien „zwei oder drei“ Taschentücher verbraucht worden, so die Eltern. Der Grund? Seht selbst:
Vater: „Wir haben Vorhauttraining gemacht.“Ich: „Was ist das?“Vater: „Das hat uns unser Kinderarzt dringend angeraten. Er sagte, ab dem Vorschulalter solle man bei den Jungs regelmäßig die Vorhaut nach hinten streifen, damit die sich mal lösen kann.“Ich: „Interessant. Geht das denn?“Vater: „Nicht wirklich. Ist ja noch ganz schön eng bei ihm da vorne.“Ich: „Wen wundert’s, das ist auch normal.“Vater: „Wie auch immer. Am Wochenende war dann der Opa da, der ist auch Kollege von Ihnen.“Ich: „Kinderarzt?“Vater: „Nein, Urologe.“Ich: „Oje.“Vater: „Ja. Ist mein Vater. Der hat uns für ein, zwei Wochen eine Cortisonsalbe gegeben und jetzt am Wochenende hat er geholfen bei der Lösung der Vorhaut.“Ich: „Und dann hat es geblutet.“Vater: „Allerdings.“Ich: „Wie alt ist denn der urologische Kollege?“Vater: „Der ist schon siebzig.“Ich: „Das dachte ich mir.“
Ich fand bei dem armen Jungen kleine Mikrorisse der Vorhaut, die – wen wundert’s – ganz normal und physiologisch in diesem Alter noch sehr eng ist. Durch die Manipulationen der Eltern im Vorfeld und die chirurgische Intervention des Opas wurde die Vorhaut sehr verletzt. Was jetzt droht, ist eine Vernarbung dieser kleinen Verletzungen, wodurch nun erst recht eine Verengung der Vorhaut entstehen kann.
Ich schrieb es schon häufiger: An der Vorhaut manipuliert allein der Junge selbst herum, wenn er das will. Erst ab späterem Schulalter zur Pubertät hin kann eine ärztliche Behandlung erfolgen – aber auch nur, wenn beispielsweise Schmerzen beim Urinieren oder bei einer Erektion auftreten. Es gibt Salben, es gibt chirurgische Behandlungen (Zirkumzisionen), aber dank des Umdenkens der letzten zwei Jahrzehnte bei Kinder- und Jugendärzten – und auch bei Urologen und Kinderchirurgen – kann man vielen Jungs eine Behandlung ersparen.
Dinge wie „Vorhauttraining“, rabiate Retraktionen der Vorhaut oder Operationen ohne medizinische Indikation sollten unterbleiben.
Bildquelle: Hunter Cosford, Unsplash