Vor allem deutsche Großstädter werden immer impfmüder und sind oft vor dem Masernvirus nicht geschützt. In einem kleinen Molekül stecken nun große Hoffnungen, die Verbreitung des Virus bei Ausbrüchen dennoch stoppen zu können.
1.775 Maserfälle wurden dem Robert Koch-Institut im letzten Jahr gemeldet, davon 790 in Bayern. Fast jeder zweite Infizierte musste stationär behandelt werden. Kaum ein Betroffener war gegen Masern geimpft worden. Vor allem in Deutschlands Großstädten nimmt die Impfbereitschaft immer weiter ab. Grund dafür könnten irreführende Berichte über mögliche Autismusfolgen aufgrund längst zurückgerufener Studien und andere Impfschäden nach einer MMR-Impfung sein. „Vor diesem Hintergrund wäre ein Wirkstoff hilfreich, der bei Auftreten einer Infektion das Risiko einer Weiterverbreitung des Virus reduziert“, heißt es auf der Webseite des Paul-Ehrlich-Instituts in Langen. Doch bleibt die Impfung bei der Bekämpfung von Masern die erste Wahl.
Wissenschaftler des Instituts haben in Zusammenarbeit mit Kollegen der Georgia State University in Atlanta, USA, ein kleines Molekül entdeckt, das bei einem Ausbruch des Masernvirus das Umfeld der Infizierten möglicherweise vor der Erkrankung schützen und somit eine Ausbreitung verhindern könnte. Bisher gelang das zwar nur im Tierversuch, dort aber mit überraschend gutem Erfolg, wie die Forscher im Fachjournal Science Translational Medicine berichten. Für ihre Untersuchungen verwendeten die Wissenschaftler Frettchen, deren Zellstoffwechsel dem des Menschen sehr ähnlich ist. Frettchen können sich zwar nicht mit dem Masernvirus infizieren, dafür aber mit dem Hundestaupevirus (CDV, canine distemper virus), das dem Masernvirus sehr ähnlich ist und ebenfalls zur Familie der Morbilliviren gehört. Beide Viren besitzen denselben RNA-Polymerase-Komplex – den Angriffspunkt des neuen Wirkstoffs.
Den Hoffnungsträger bezeichnen die Wissenschaftler als ERDRP-0519. Das kleine Molekül blockiert die Polymerase, ohne die sich Morbilliviren im Zellinneren nicht replizieren können. Doch nicht nur das, ERDRP-0519 hat noch weitere positive Eigenschaften: Der Stoff ist leicht herzustellen, kann oral verabreicht und bei Zimmertemperatur lange gelagert werden. Aus einer Reihe synthetisch hergestellter Hemmstoffe für verschiedene Angriffspunkte am Masernvirus überzeugte ERDRP-0519 die Wissenschaftler auch aufgrund seiner guten Durchgängigkeit durch die Zellwand am meisten. „Dieser Aspekt ist wichtig, da der Hemmstoff im Inneren der Zelle wirken muss, wo sich das Virus vermehrt“, erklärt Dr. Veronika von Messling, Abteilungsleiterin der Veterinärmedizin des Paul-Ehrlich-Instituts. In-vitro-Versuche mit tierischen und humanen Zelllinien wiesen außerdem auf eine geringe Toxizität des Stoffes hin.
Auch im Tierversuch konnte das kleine Molekül überzeugen: Eine Infektion mit dem Virus ist für unbehandelte Frettchen tödlich. Wurden die Tiere dagegen ab dem dritten Tag nach Infektion für 14 Tage mit jeweils 50 Milligramm des Wirkstoffs pro Kilogramm Körpergewicht behandelt, überlebten alle Frettchen die Infektion mit dem Virus. Die Behandlung, die von den Tieren sehr gut vertragen wurde, führte zudem zur Entwicklung eines Immunschutzes gegenüber dem Hundestaupevirus – eine erneute Infektion 35 Tage nach der ersten Infektion mit dem Virus blieb folgenlos. Allen Tieren wurde das Zehnfache der letalen Dosis (LD50) an Hundestaupeviren intranasal verabreicht.
Eine Sache bereitet den Wissenschaftlern jedoch Kopfzerbrechen: Die Therapie mit ERDRP-0519 führte bei einigen Viren zu genetischen Veränderungen in den Bereichen, die für die RNA-Polymerase kodieren. Mit diesen Viren starteten die Forscher weitere Versuche, doch glücklicherweise hatte keine der Mutationen zu einem aggressiveren Virus geführt. Im Gegenteil: Alle mutierten Viren hatten an Virulenz verloren. „Doch ob das bei zukünftigen Anwendungen von ERDRP-0519 auch so sein wird, lässt sich schwer vorhersagen“, so Dr. von Messling. Die Versuche der Forscher deuteten jedoch darauf hin, dass die mutierten Viren schlechter übertragen werden als der Wildtyp.
So vielversprechend das kleine Molekül sich auch zunächst präsentiert hat, in den nächsten Jahren wird wohl weiterhin ausschließlich eine Impfung sicheren Schutz vor einer Infektion mit dem Masernvirus bieten. Denn bis zum klinischen Einsatz von ERDRP-0519 sind noch zahlreiche Untersuchungen zur Toxizität und Wirksamkeit sowohl am Affen als auch am Menschen notwendig. Und letztendlich können nur lang angelegte Studien zeigen, wie lange der so erzeugte Schutz gegen das Masernvirus tatsächlich anhält und ob mögliche Mutationen im Virus den Hemmstoff eventuell sogar wirkungslos machen.