Ein Transplantationspatient ringt um sein Leben, eine Joggerin wird am Strand angegriffen, ein Patient fürchtet sich vor einem Wasserglas – keiner von ihnen überlebt. Wie hängen diese Fälle zusammen?
Marburg, Frühjahr 2005. Auf der Intensivstation ringt ein Mann um sein Leben. Er hat vor kurzem eine Nierentransplantation erhalten. Sein Zustand verschlechtert sich, immer wieder fällt er plötzlich in ein unerklärliches Koma. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Was Sie noch nicht wissen: Ein paar 100 km weiter nördlich spielt sich ein ähnliches Drama ab.
Hannover. „Eine neue Lunge!“ Für die schwerkranke Frau geht ein Traum in Erfüllung, es ist die zweite Chance, auf die sie jahrelang gewartet hat. Die Operation verlief komplikationslos. Aber jetzt stimmt etwas nicht: Sie hat seit 2 Tagen rasende Kopfschmerzen, kann sich kaum konzentrieren. Und dann ist da noch die Sache mit dem Wasser. Es löst etwas in ihr aus, eine Angst, tiefer und gnadenloser, als sie sie je erlebt hat. Panik steigt in ihr auf. „Mein Gott, was passiert mit mir?“
Szenenwechsel: Goa, Oktober 2004. Eine junge Frau joggt über den fast makellosen Strand, es ist einer dieser endlosen warmen Sommerabende, nach denen sie sich im kalten Deutschland so lange gesehnt hat. Die Attacke kommt ohne Vorwarnung. Sie spürt einen scharfen Schmerz am Hals, Klauen, schlagende Flügel. Sie schreit vor Schmerz, im Augenwinkel sieht sie noch einen schwarzen Schatten im Dämmerlicht verschwinden, dann ist es vorbei. Sie taumelt, tastet nach ihrem Hals – und hat Blut am Finger.
Goa, Indien - Können Strände tödlich sein? (Quelle: _docjay)
Kurze Zeit später sind alle 3 tot. Die beiden Transplantationspatienten versterben nach kurzer Zeit auf der Intensivstation im Koma. Die junge Frau, zurück im Deutschland, stirbt 2 Monate später an Herzversagen. Drei Menschen, drei Schicksale. Gibt es hier einen Zusammenhang?
Szenenwechsel. Michigan, 2025. „Nehmen Sie das Wasser weg!“ In der Stimme des Mannes liegt blanke Angst. Die Ärztin schaut irritiert auf das Glas auf dem Nachttisch. „Das Wasser? Okay ...“.
16 Stunden später. „Hier stimmt etwas nicht! Station 5“. Der Anruf der Nachtschwester klang dringlich. Dem diensthabenden Internisten rasen zahllose Gedanken durch den Kopf. Nierentransplantation vor 2 Wochen, bisher unproblematischer Verlauf. Vor 2 Tagen begannen die Probleme: Stimmungsschwankungen, wechselnde Vigilanz. Das Schädel-MRT war unauffällig. Und gestern war irgendwas mit „Wasser“ – was zur Hölle?
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„Er ist total aggressiv!“ Die Schwester auf Station klingt noch eindringlicher als am Telefon. Der Arzt betritt das Zimmer. Ein paar Tage später ist auch dieser Mann tot. Was ist hier los? Abstoßungsreaktion? Sepsis? Eine unbekannte Infektion? Vielleicht sogar „Disease X“?
Obduktionen und umfangreiche Nachforschungen beginnen. Die Lösung des dunklen Rätsels liegt in den transplantierten Organen: Die Organspenderin hatte Tollwut. Zwei Nieren, eine Lunge, ein Teil der Leber und beide Hornhäute wurden transplantiert. Niemand wusste, was da in ihr lauerte; sie hatte keine Symptome vor dem Tod.
Der Fall wurde breit diskutiert, eine routinemäßige Testung auf Tollwut findet nicht statt, dafür ist die Krankheit einfach zu selten. Manchmal wiederholt sich die Geschichte. Auch dieses Jahr in Michigan wurde eine Niere transplantiert – auch hier ahnte niemand, dass der Spender infiziert war.
Tollwut wird durch das Lyssa-Virus ausgelöst und durch Bisse infizierter Tiere (meist Hunde) übertragen. Prinzipiell kann man sich auch durch Lecken von geschädigter Haut anstecken. Wie es dann weitergeht, kann man sich kaum ausdenken: Nach einem infizierten Biss wandern die Viren entlang der Nerven ins Gehirn, wovon man nach einem unspezifischen Prodromalstadium nichts bemerkt. Je nachdem, wie weit die Bissstelle vom Gehirn entfernt ist, kann die Inkubationszeit zwischen wenigen Tagen bis zu einem Jahr betragen.
Ist das Virus im Gehirn angekommen, brechen die Symptome aus. Ein Symptom ist die berüchtigte Hydrophobie, es kommt außerdem zu Stimmungsschwankungen und aggressivem Verhalten. Gleichzeitig können auch Muskelschwäche und Lähmungen vorkommen. Im Endstadium treten dann Vigilanzminderung, Krampfanfälle, Koma und schließlich nach wenigen Tagen immer der Tod, meist durch zentrales Atemversagen, auf.
Es gibt keine kausale Therapie der Erkrankung – einmal ausgebrochen, steht man daneben und sieht dem Drama hilflos zu. Immer? Fast immer. Es gibt ein paar vereinzelte Fälle, in denen experimentelle Therapien versucht wurden – und einzelne Patienten überlebt haben. Bekannt wurden sie als Milwaukee-Protokoll, was sich jedoch nicht zuverlässig reproduzieren ließ.
Jedes Jahr sterben etwa 60.000 Menschen an Tollwut, ein Großteil davon in Indien. Darunter sind viele Kinder, die von Hunden in Kopf und Hals gebissen werden: Der Weg ins Gehirn ist kurz und die Krankheit bricht schnell aus. Vollständig tollwutfrei sind nur wenige Länder auf der Welt.
Tollwut-freie Länder (Quelle www.wikiwand.com)
Was tun? Gar nicht erst erkranken. Es gibt seit Jahrzehnten eine außerordentlich zuverlässige Impfung, die fast zu 100 % gegen das Virus schützt. Für jede Reise in ein Tollwutgebiet ist die Tollwutimpfung dringend empfehlenswert. Die eigentliche Erkrankung ist zwar selten – aber ebenso gut wie immer tödlich. Gleichzeitig gehören potenziell tollwutgefährliche Tierkontakte zu den häufigsten Ereignissen auf Reisen.
Wenn man gebissen wird, ist es für Ungeimpfte höchste Zeit für eine Postexpositionsprophylaxe aus Tollwut-Antikörpern und einer Mehrfach-Impfserie nach dem Zagreb- oder Essen-Schema. Vollständig geimpfte Personen brauchen keine Antikörper, sollten aber laut Ratgeber des RKI eine Booster-Impfung an Tag 0 und 3 erhalten. Offenbar schützt eine vollständige und korrekte Impfserie auch nach vielen Jahren – einer der Transplantationspatienten 2005 in Deutschland erkrankte nicht dank einer lang zurückliegenden Impfung.
Deutschland gilt, ebenso wie andere westeuropäische Staaten, seit 2008 als tollwutfrei – mit einer Ausnahme: Ein Reservoir gibt es auch hier weiterhin in Fledermäusen, sodass im Fall eines Bisses eine Expositionsprophylaxe dringend indiziert ist. Lassen wir diese faszinierenden Tiere also besser in Ruhe.
Bildquelle: Getty Images, Unsplash