Annette sitzt wie ein Häufchen Elend vor mir: Sie hat vermutlich Krebs. Das ist nicht fair – und doch muss man sich damit arrangieren. Vom Balanceakt zwischen Mitgefühl und Selbstschutz.
Manchmal höre ich Anamnesen und es läuft mir selbst kurz kalt den Rücken runter, weil mir durch den Kopf schießt „das könntest du sein“. Vor Kurzem saß eine Bekannte vor mir, nur minimal älter als ich, berufstätig, zwei Kinder (glücklicherweise nicht mehr ganz jung). Nach einem auffälligen Befund in der Vorsorge steht nun die Diagnose Mammakarzinom im Raum. Dabei gibt es keine bekannte Familienanamnese oder ausgeprägte Risikofaktoren – sie hat einfach Pech.
Rein intellektuell ist mir klar, dass das Leben halt so ist. Ich kenne die Statistiken, ich weiß, was in welchem Alter wie häufig ist und so weiter. Aber ich bin halt nicht nur mein Verstand. Und es fühlt sich schon echt gruselig an zu denken „was wäre, wenn das dir passieren würde?“. Das ist für mich ja immer ein bisschen die Krux: Als Ärztin weiß ich, was alles passieren KANN. Aber ich muss einen Mittelweg finden zwischen Sich-nur-noch-Sorgen-machen und Alles-Ignorieren.
Für beides kenne ich Beispiele. Wir haben eine Patientin, die jahrzehntelang in der stationären Onkologie an einer Uniklinik gearbeitet hat. Da zählten die „harten Fakten“: Röntgen, Laborwerte. Als sie später anfing, eine funktionelle Störung zu entwickeln, war ihr das kaum zu erklären, weil sie für ihre Beschwerden auch „harte Fakten“ finden wollte – und die gab es nicht, egal, wie viel sie auch gesucht hat. Als wir uns geweigert haben, die x-te Röntgen/MRT/Laboruntersuchung zu machen, ging sie einfach zu den jeweiligen Fachärzten und hat sich von dort die Untersuchungen verschreiben lassen. Gefunden wurde nichts, seit Jahren. Das kann und will sie aber bis heute nur schlecht akzeptieren.
Andererseits weiß ich auch, dass Ärzte oft extreme Vorsorge-Muffel sind und sich nicht an die eigenen Empfehlungen halten, was Früherkennung angeht (als ob wir als Ärzte per definitionem weniger krank würden). Und ja, ich kenne auch mehrere Kollegen, die ihre eigenen Beschwerden so lange nicht abgeklärt haben, bis der Herzinfarkt da oder die Krebserkrankung nun wirklich nicht mehr zu ignorieren war.
Ich versuche es mit „Play it by the book“, also letztlich: Für mich gelten die gleichen Regeln wie für andere auch. Gyn-Vorsorge ein Mal im Jahr, Hautkrebsscreening, Laborkontrolle – auch wenn ich gestehen muss, dass meine eigene körperliche Untersuchung für die GU mehr als zwei Jahre her ist. Aber ja, es ist irgendwie letztlich auch eine geistige Anstrengung, sich aktiv immer wieder an die eigenen Standards zu halten. Ich hoffe, dass ich das weiter durchhalten kann (und mein Mann erinnert mich auch gern und häufig daran, dass „Ärzte die schlimmsten Patienten“ seien, wenn er das Gefühl hat, dass ich etwas schleifen lasse). Ich habe vor kurzem mal gelesen, dass es Länder gibt, in denen es spezielle Gesundheitsfürsorge für medizinisches Personal gibt, eben WEIL da so oft Dinge untergehen. Fand ich total interessant, in Deutschland in absehbarer Zeit aber leider völlig utopisch.
Ein interessanter psychologischer Nebeneffekt von Patientenschicksalen, die einen mitnehmen: Die eigenen Praxis-Probleme relativieren sich auch sehr stark. Klar, auch wir haben immer mal wieder mit Krankenstand und Kinderbetreuungsproblemen zu tun. Einmal wurde uns am Quartalsletzten das Glasfaserkabel kaputt gebaggert (kein Internet, kein Telefon, glücklicherweise ein Techniker mit sehr guten Kontakten, sodass wir das am selben Tag bis 23 Uhr noch geklärt hatten und mit funktionierender Technik ins neue Quartal starten konnten). Oder Patienten lassen Termine platzen ... irgendwas ist immer.
Aber all das sind letztlich mehr Ärgerlichkeiten als wirkliche Probleme. Und wenn ich dann unsere Patientenschicksale sehe, denke ich auch manchmal „man, was geht es mir gut und wie klein sind meine Probleme“ (Ja, Vergleichen ist auch nicht gut, aber leider ebenfalls zutiefst menschlich, fürchte ich).
Glücklicherweise können wir viele ja heilen (bzw. den Körper bei der Heilung unterstützen) und auch ansonsten helfen, so gut es geht. Einige Patienten sagen mir sogar, dass sie erst durch eine Erkrankung einen anderen Blick auf die Alltagswidrigkeiten bekommen haben. Dass sie sich mehr über die Kleinigkeiten im Alltag freuen und der kaputte Drucker halt nur noch ein geringes Ärgernis ist. Und das nicht nur bei den Patienten, wo es am Ende auf eine Heilung hinausläuft, sondern auch bei den Palliativpatienten. Das ist für mich dann auch einfacher. Man versucht ja immer, das Beste rauszuholen für seine Patienten – aber es tut auch mir gut zu sehen, dass viele Menschen letztlich ihren Frieden gefunden haben. Und bei allem, was so passiert (bzw. sicherlich auch gerade deswegen), trotzdem das Positive sehen.
Schön und kurz zusammengefasst: „Sieh den Regenbogen! Nur wenn der Himmel weint, erblickst du die Farben im Licht.“ (Shan Tao)
Bildquelle: Med Aghamyan, Unsplash