Patienten mit Ateminsuffizienz hilft man besser früher als später – wenig überraschend. Wann sich welche Methode eignet, hat eine Studie untersucht. Wie aufgeblasen die vermeintlichen Erkenntnisse sind, lest ihr hier.
Keine Studie ist ohne Schwächen, egal wie hochrangig publiziert. Viele lesen nur die Ergebnisse und sagen dann „Studie XY hat gezeigt, dass…“ – sowas erzeugt bei mir immer ein wenig Fremdscham, weil es nie so einfach ist.
In der aktuellen RENOVATE-Studie ging es konkret um Patienten, die ein Problem mit der Atmung haben und aus irgendeinem Grund Unterstützung benötigen. Ursache dafür kann eine Lungenentzündung, ein Lungenödem oder vieles mehr sein, aber das sind mit die häufigsten Gründe.
Für diejenigen mit 15-Sekunden-TikTok-Aufmerksamkeitsspanne hier die Punchlines zuerst:
Atemwegshilfen und Beatmung
Bis in die 90er Jahre hinein musste man Patienten, denen eine Beatmung per Sauerstoffbrille nicht reichte und die trotz einer Sauerstoffmaske hypoxisch wurden, intubieren. Man musste also einen Plastikschlauch in die Luftröhre legen. Dafür benötigen Patienten eine Sedierung – viele Kliniken legen die Patienten in eine Art milde Narkose. Anders als noch 1980 haben wir heute neben der Sauerstoffbrille, der Sauerstoffmaske und dem Beatmungsschlauch zwei wichtige Zwischenschritte – die High-Flow-Nasenkanüle (HFNC) und die nichtinvasive Beatmung (NIV).
In den 90er Jahren wurde die NIV als weiteres Bindeglied etabliert. Hierbei bekommen die Patienten eine Maske auf, die eng am Gesicht anliegt und mit einer Silikonlippe abschließt. Es ist mit der Maske möglich, Patienten bei der Atmung aktiv zu unterstützen. Außerdem ist das System geschlossen – man kann also 100 % Sauerstoff anbieten.
Grundsätzlich sollte man zur Einschätzung der Studienergebnisse die verschiedenen Formen der Atmungsunterstützung kennen. Es fängt an mit der sogenannten Sauerstoffbrille, einem Plastikschlauch, der unter die Nase gelegt und über die Ohren geführt wird („wie eine Brille“) und den Patienten Sauerstoff zuführt. Reicht das nicht, ist die nächste Möglichkeit eine Sauerstoffmaske – mit oder ohne Reservoir. Hierüber können wesentlich höhere Sauerstoffkonzentrationen angeboten werden.
Beide Maßnahmen haben gemeinsam, dass sie die Atmung nicht erleichtern, sondern nur das Sauerstoffangebot in der eingeatmeten Luft erhöhen. Mit der Sauerstoffmaske und Reservoir und einem Frischgasfluss von 10–12 Litern sind annähernd 100 % zu erreichen, es bleibt aber eine leichte Undichtigkeit. 10–12 Liter über so eine Maske sind sehr laut. Und die Luft ist kalt und trocken und trocknet die Schleimhäute aus.
Größter Vorteil der NIV gegenüber der Intubation ist, dass die Patienten nicht zwingend eine Sedierung benötigen. Die NIV kann – anders als die Sauerstoffmaske – Patienten aktiv bei der Atmung unterstützen. Die Maschine kann so eingestellt werden, dass sie sehr empfindlich und innerhalb von Millisekunden erkennt, wenn die Patienten einen Atemzug machen wollen und diesen unterstützen. Das ist sehr angenehm und ich lasse das alle Pflegeschüler und Praktikanten mal ausprobieren, damit sie ein Gefühl dafür bekommen, welche Unterstützung wie wirkt. Man muss sich das wie ein E-Bike vorstellen: Das Rad erkennt, wenn wir in die Pedale treten und gibt je nach Einstellung etwas Kraft dazu.
Ich erlebe regelmäßig Patienten mit Atemnot, die das so entspannend finden, dass sie noch im Rettungswagen eindösen, weil sie sich nicht mehr so anstrengen müssen. Andererseits – wenn man die Einstellungen falsch wählt, können Patienten die NIV-Maske als zusätzlichen Stress empfinden und sogar die Therapie abbrechen. Um das zu verhindern, gibt es ein paar Tricks, wie z. B. die Maske nicht direkt anzulegen, sondern die Patienten zunächst selbst mithalten zu lassen, bis sie merken, dass es ihnen hilft.
Und trotzdem hat auch die NIV Nachteile. Größter Nachteil ist wohl, dass man nur noch schlecht kommunizieren kann, weil man eine dicht sitzende Maske über Mund und Nase hat. Bei Erbrechen kann es sogar gefährlich werden, weil das Sekret direkt in die Lunge gedrückt wird. Auch bei Mittelgesichtsverletzungen, Magenblutungen oder ähnlichem kann es sein, dass eine solche Therapie nicht möglich ist.
Die Frage der Studie war, ob HFNC im Vergleich zur NIV bei erwachsenen Patienten mit akuter respiratorischer Insuffizienz die Rate von Intubationen oder Todesfällen innerhalb von 7 Tagen reduziert. Das ist, nebenbei bemerkt, eine sehr ambitionierte Fragestellung – aber genau das, was wir wissen wollen.
Wie schon gesagt scrollen viele Mediziner direkt zu den Ergebnissen, das lautete in diesem Fall: Die RENOVATE-Studie legt nahe, dass HFNC in bestimmten Patientengruppen mit akuter respiratorischer Insuffizienz eine vergleichbare Alternative zu NIV darstellt, insbesondere aufgrund des höheren Patientenkomforts. Was ganz wichtig ist: Das Fazit für die klinische Praxis lautet NICHT „Es ist egal, ob ich Patienten HFNC oder NIV anbiete!“
Was die Studie gut macht, ist die enorme Größe – 33 brasilianische Kliniken nahmen von November 2019 bis November 2023 teil. Ja genau, die Studie wurde vor Corona angefangen, während Corona und bis nach Corona fortgeführt.
Es wurden 2.731 Patienten für die Studie als geeignet angesehen, aber am Ende nur 1.800 randomisiert. Das ist ein normales Vorgehen, aber man muss immer genau hinschauen, welche Patienten warum ausgeschlossen werden, um nicht zu riskieren, dass sich durch diesen Ausschluss ein falsch-gutes Ergebnis der Studie ergibt.
Die Patienten wurden zur besseren Beobachtung in fünf Gruppen unterteilt.
Und da gibt es das erste Problem – in der Gruppe der immungeschwächten Patienten waren nur 98 eingeschlossen, nach Wechsel in die COVID-19-Gruppe blieben noch 28 mit HFNO und 22 mit NIV. Das schmälert die Aussagekraft der Studie enorm und lässt von den 1.800 Patienten nicht mehr so viele übrig. Ähnliches gilt für die Gruppe mit COPD, da waren es am Ende gerade mal 35 HFNO und 42 NIV-Patienten. Das ist eine sehr dünne Datenlage.
Größtes Problem ist wohl, dass es aufgrund der Behandlungsmethode nicht möglich war, die Therapie der Patienten zu verbinden. Während man einer Tablette von außen nicht ansehen kann, ob sie einen Wirkstoff enthält, sieht jeder Mitbehandelnde, ob eine NIV-Maske oder eine HFNC zur Anwendung kommt. Dies erhöht das Risiko für potenzielle Verzerrungen, vor allem da die Entscheidung zur Intubation im Ermessen der behandelnden Ärzte lag.
In der Gruppe der immungeschwächten Patienten wurde die Datenerfassung sogar vorzeitig abgebrochen. Ob sich hier eine Überlegenheit der NIV oder sogar eine erhöhte Mortalität mit HFNC gezeigt hätte, bleibt ungeklärt.
Die Aussagen insbesondere zur Gruppe der Patienten mit COPD bleiben vage: Aufgrund der geringen Stichprobengröße kann keine Aussage zur optimalen Therapie getroffen werden. Das ist schade, da insbesondere COPD-Patienten den Großteil der Patienten darstellen, die mit einem Lungenversagen auf die Intensivstation kommen.
Die Studie liefert also Hinweise darauf, dass die HFNC bei einigen Patienten aufgrund des deutlich höheren Komforts eine sinnvolle Therapieoption sein kann. Insbesondere, da die HFNC noch einfacher einzustellen ist als die NIV, wäre eine frühe, niederschwellige Etablierung bereits durch nichtärztliches Personal zu begrüßen.
Auch wenn es bereits erste Versuche dazu gibt, ist die HFNC im Rettungsdienst wegen der benötigten enormen Gasflüsse bisher nicht sinnvoll praktisch einsetzbar. Wir reden hier von über 30–60 Litern Sauerstoff pro Minute (!), da ist die Standardflasche (2 Liter, 200 bar) in 6 Minuten leer. In der Klinik wird die HFNC von unseren Pflegekräften sowohl in der Notaufnahme als auch auf der Intensivstation aufgrund der hohen Akzeptanz durch die Patienten durch die Anwärmung und Anfeuchtung der eingeatmeten Luft sehr niederschwellig zum Einsatz gebracht.
Wenn wir über HFNC vs. NIV sprechen, möchte ich aber eine ganz wichtige Studie nicht unerwähnt lassen. Nach RENOVATE kam nämlich die NAVIGATE-Studie von Monti et al. ganz frisch im Januar dieses Jahres. Sie wurde im renommierten British Journal of Anaesthesia (BJA) veröffentlicht.
Die Studie wollte die Wirksamkeit der frühen NIV auf allgemeinen Stationen bei Patienten mit akuter respiratorischer Insuffizienz untersuchen. Explizit ging es also nicht um Intensivstationen sondern um die Frage, ob eine NIV bereits auf der Normalstation beispielsweise einen Fortschritt der Erkrankung bis zur Intensivpflichtigkeit verhindern kann.
Siehe da – die Studie zeigte sehr deutlich, dass die Behandlung mit einer NIV auf der Normalstation mit vielen Vorteilen verbunden war:
Die Studie ist qualitativ extrem hochwertig – international, multizentrisch, offen randomisiert. Mehr geht nicht!
Und doch bleiben auch hier Fragen offen. Wurde sich um die Patienten, die eine NIV-Maske hatten, vielleicht pflegerisch und ärztlich intensiver gekümmert? Immerhin hatten sie eine Beatmungsmaske an. Die Beatmung alarmiert, wenn man hustet, man ist mit einem Ohr immer in der Nähe der Patienten. Wurden sie einfach besser umsorgt?
Und da auch hier aufgrund der Intervention trotz Randomisierung eine Verblindung nicht möglich war, bleibt die Frage offen: Hatte das Einfluss auf das Ergebnis? Hier zeigt sich auch schön: Egal, wie sorgfältig man eine Studie plant, am Ende bleiben immer Schwächen. Man kann aber auch aus dieser Studie etwas ganz wichtiges für die eigene klinische Praxis ableiten:
Gut, das hätte ich jetzt auch so gewusst, aber es ist doch schön, dass es immer wieder sehr teure Studien gibt, mit denen sich dann ein Dutzend Leute habilitieren können, die uns genau das bestätigen.
Bildquelle: Andrew Dawes, Unsplash