Labels zu vergeben, ist keine neue Praxis. Aber so langsam nimmt es überhand: In der heutigen Zeit braucht alles und jeder seine Schublade. Warum ich das problematisch finde.
Es scheint heutzutage ein gesellschaftliches Phänomen zu sein, an viele Dinge Hashtags, Labels oder Schlagworte zu hängen. Gern auch an unsere Beziehungen und Mitmenschen (z. B. „toxisch“, „beziehungsunfähig“, „Narzisst“,) – oder eben an uns selbst. Ich vermute, dass das aus der Anfangszeit der Suchmaschinen kommt, wo diese Schlagworte helfen sollten, schneller relevante Informationen zu finden. In jedem Fall gilt: Je extremer das Label, desto besser. Wir sind nicht mehr nur traurig – unter „traumatisiert“ geht es gefühlt oft nicht mehr.
Ich finde das sowohl als Ärztin als auch als Privatperson und Mutter inzwischen echt schwierig. Gefühlt muss und will jeder ein Label haben und das soll bitte möglichst krass sein. Meines Wissens nach war ursprünglich das Wort „PTBS“ Extremsituationen vorbehalten: Krieg, Vergewaltigung …. Inzwischen lese ich in Begründungen dieser Diagnose teilweise sowas wie „nach Kündigungsgespräch“. Das soll nicht heißen, dass ein Kündigungsgespräch nicht extrem fies sein kann. Aber ein Trauma? Ich finde das schon irgendwie schwierig, nachzuvollziehen.
Für mich aber ein fast noch größeres Problem: Viele sehen die Labels, die sie sich geben, als dauerhafte Eigenschaft an, wo ich es durchaus temporär sehen würde. Für mich sind viele Eigenschaften eher etwas, das man temporär HAT (ggf. in bestimmten Situationen), als etwas, das man wirklich immer IST.
Mir fällt das besonders stark bei Jugendlichen auf. Gerade in Pubertät und Adoleszenz ist das Zugehörigkeitsgefühl ja sehr wichtig und das führt zur Gruppenbildung, was oft auch sehr positiv ist. Das ist normal und das haben wir früher auch schon so gemacht. Wobei ich behaupten würde, dass das Internet viel stärker uniformisiert hat, als es früher der Fall war. Was natürlich rein subjektiv ist. Heute tragen gefühlt die allermeisten Mädchen lange, glatte Haare (offen), gern in Kombination mit eng anliegendem Top und weiten Hosen – denn das gehört ja alles zum Label „weiblich“. Jungs haben einen Kurzhaarschnitt und auch häufig ähnliche Bekleidungsmuster (aktuell ist offensichtlich die Jogginghose sehr beliebt). Nur mit diesen Dingen ist man „männlich“ und „cool“.
Ich fand das interessant, als ich mit meinen Kindern alte Klassenfotos angeschaut habe – meine Kids meinten irgendwann, dass sie auf den Fotos kaum auseinanderhalten könnten, wer denn da Junge oder Mädchen sei – Mädchen mit Kurzhaarfrisuren, Jungs mit langen Haaren, ein absolutes Durcheinander an Oberteilen (zugegebenermaßen über der obligatorischen Blue Jeans). Sind die Grenzen da enger geworden? Ich weiß es nicht objektiv, aber meiner Empfindung nach schon. Meine Tochter hatte schon Ärger, dass ihre Lieblingsfarbe blau (und nicht rosa/pink/lila) war, als sie in der Grundschule war – damit sei sie ja kein „richtiges Mädchen“.
Noch viel problematischer finde ich die psychischen „Labels“, die sich die Leute nehmen. Sie HABEN nicht eine bestimmte Eigenschaft, sondern sie SIND halt so. Das suggeriert (zumindest für mich) eine Unveränderlichkeit, die ich ehrlich gesagt nicht so sehe. Erstens, weil wir oft unterschiedliche Rollen in unterschiedlichen Situationen einnehmen (in der Praxis muss ich als Chefin häufig die Richtung angeben, im Sport bin ich Teilnehmerin und der Trainer hat das Kommando). Zweitens – weil das ja oft in Kombination mit der Wahrnehmung kommt – man solle ja „so bleiben, wie man ist“ oder „sich selbst treu bleiben“.
Wenn jemand, der eigentlich das Label „introvertiert“ hat, entdeckt, dass er aber doch gern auf der Bühne steht, wenn es in einem gewissen Kontext (Theater, Band, was auch immer) ist, dann ist das meiner Meinung nach völlig in Ordnung. Derjenige HAT vielleicht ein Problem in gewissen Situationen wie z. B. im Geschäft oder mündlichen Prüfungen, aber in anderen Situationen HAT er auch Spaß an Extroversion. Ich erlebe aber, dass Leute nicht mal mehr Neues versuchen wollen, weil sie ja introvertiert SIND.
Ein Label wie „ich bin chaotisch“ kann helfen, wenn man es nutzt, um Strategien zu entwickeln, wie man damit umgehen kann. Vielleicht lässt sich die Eigenschaft positiv nutzen (kann mein Chaos vielleicht auch kreative Ansätze bieten?) oder ein besserer Umgang mit schwierigen Situationen finden (z. B. das Nutzen einer Erinnerungs-App oder Post-It-Zettel, um wichtige Dinge nicht zu vergessen). Aber dafür muss man das Label als etwas verstehen, mit dem man leben lernt. Nicht etwas, was man IST – denn dann wäre die Veränderung ja ein Verrat an sich selbst.
Warum mich das gerade auch ärztlich beschäftigt? Ich habe mehrere junge Patientinnen, die sich (unabhängig voneinander) selbst Label zugelegt haben („Ich bin depressiv/sozialphobisch/essgestört“) und zwar die Therapie mitmachen (im Sinne von Zeiten absitzen, manche erst kurz, andere seit Jahren), aber überhaupt keinen Wunsch haben, daran aktiv etwas zu ändern.
Sie finden es zwar „nicht so toll, aber ich bin halt so“. Das Umfeld (gerade die Eltern) leidet dabei oft mehr als die Patientinnen selbst, weil meistens Elternhäuser dahinter stehen, die aktuell noch finanziell und sozial massiv unterstützen. Aber ich frage mich schon, woher das kommt, dass diese jungen Frauen so völlig festzusitzen scheinen. Wenn ich mit den Therapeuten spreche, sagen die mir auch, dass diese Mädchen oft auf dem Stand von 12–15-Jährigen festhängen und da nicht mehr wegkommen. Sie empfinden sich als „wir sind halt so“.
Ich glaube, dass wir aufpassen müssen, dass diese Labels nicht zu viel Macht bekommen. Wir sind Menschen und Menschen wandeln sich – wir „sind“ nicht einfach bestimmte Eigenschaften. Gerade in Pubertät und Adoleszenz ändert sich sooo viel – das muss auch möglich sein und möglich gemacht werden (auch wenn uns Älteren dann die Mode mal nicht passt, wir das Makeup oder die Musik furchtbar finden, etc.). Dieses Ausprobieren ist wichtig – auch wenn manches dann rückblickend furchtbar peinlich ist. Und es müssen auch nicht immer Superlative sein.
Vielleicht fällt es den Menschen dann auch wieder einfacher, miteinander zu reden, wenn wir nicht nur auf die Label schauen, wie die Menschen „sind“, sondern mehr darauf achten, welche Rolle sie in bestimmten Situationen vielleicht „haben“. Dann ist da auch Raum für Veränderungen.
Denn: „Auch was wir am meisten sind, sind wir nicht immer.“ – Marie von Ebner-Eschbach
Bildquelle: Jack Krzysik, Unsplash