KOMMENTAR | US-Zölle von bis zu 50 % stehen im Raum. Auch wenn diese Drohung nun pausiert ist, kommen harte Zeiten auf Hersteller von Medizinprodukten zu. Wir haben mit Platzhirsch Siemens Healthineers gesprochen, wie schlimm die Lage wirklich ist.
Ob Kontaktlinsen, Herzschrittmacher oder OP-Tische: Der deutsche und US-amerikanische Markt für Medizinprodukte sind traditionell eng miteinander verzahnt. Sowohl mit Blick auf den Import als auch auf den Export von Halbzeug und Endprodukten steigen die Absätze in beide Richtungen konstant an. So legte die Quote von deutschen Herstellern, die ins Ausland versenden, noch einmal zu und erreichte 68 % (Stand 2024). Konkret brachte man 27,4 von 40,4 Milliarden Euro ins Ausland. Hiervon wiederum hatten 13,9 % die USA als Ziel, was 5,6 Milliarden Euro entspricht. Gleichzeitig importierte Deutschland 25,8 % seiner benötigten Medizinprodukte aus Nordamerika.
Das Besondere an dem gegenseitigen Warenaustausch: Ein großer Teil der Medizinprodukte konnte – auch aus humanitären Gründen – zollfrei in beide Richtungen verschifft werden. Dies galt vor allem für Instrumente und Apparate zur medizinischen Forschung, Diagnose oder Behandlung. Im Sprech deutscher Grenzbehördler heißt das: „Eine Zollbefreiung für Teile, Zubehör und Spezialwerkzeuge kommt [...] dann in Betracht, wenn sie mit dem dazugehörigen medizinischen Gerät gemeinsam eingeführt werden oder sie im Falle einer späteren Einfuhr erkennbar für ein medizinisches Gerät bestimmt sind, welches zuvor zollfrei eingeführt worden ist.“
Damit scheint nun vorerst Schluss zu sein. Auch die Medizintechnik kommt wohl unter die Zollräder. „Das stellt einen Bruch mit der bisherigen Praxis dar, Medizinprodukte von handelspolitischen Maßnahmen auszunehmen“, stellt Dr. Marc-Pierre Möll, Geschäftsführer des Bundesverbands Medizintechnologie (BvMed), fest. Der Fachmann kritisiert damit jedoch nicht nur das US-amerikanische Handeln, sondern auch die europäische Seite, die bereits an möglichen Gegenzöllen arbeitet und unlängst eine Liste veröffentlichte, die einige Medizinprodukte beinhaltet. Konkret teurer würden:
Unterdessen greifen aber bereits die US-Aufschläge auf sterile Schläuche, Herzschrittmacher und weitere Medizinprodukte. Doch nicht nur die US-Teuerungen auf fertige Endprodukte schädigen Lieferketten, Produktion und letztlich auch die Versorgung mit Medizinprodukten. Unternehmen, die Komponenten aus Stahl- und Aluminium verbauen, sind einem Steuersatz von 25 % ausgesetzt. Fun Fact: Das Extra von 25 % muss auf den gesamten Warenwert des Produktes bezahlt werden – egal, wie hoch der verwendete Anteil von Stahl oder Aluminium ist.
Wie Deutschlands größter Medizinprodukte-Hersteller, die Siemens Healthineers AG, damit umgeht, hat DocCheck im Gespräch erfahren: „Wir sind ermutigt durch die Aussetzung der meisten gegenseitigen Zölle, aber auch die neue Zolluntergrenze von 10 % ist noch eine einschneidende Maßnahme.“ Das Unternehmen, das mit 17.000 Mitarbeitern, 2 Segmentstandorten und einem US-Umsatz von 8 Milliarden Euro stark vom US-Markt abhängig ist, ist jedoch gewarnt und agiert vorsichtig. „Es wird einige Zeit dauern, bis wir die möglichen Auswirkungen auf unser Unternehmen abschätzen können. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Situation wohl weiterhin volatil bleiben wird. Wir evaluieren unsere Lieferketten und unsere Produktionsstandorte ständig. Entscheidungen, Produktionsstätten zu verlagern oder neue aufzubauen, sind weder schnell noch trivial und Zölle sind nur einer der Faktoren, die bei solchen Entscheidungen eine Rolle spielen. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob wir weitere Maßnahmen ergreifen werden.“
Eine großangelegte Kollaboration von Siemens Healthineers mit der kanadischen Provinz Alberta dürfte angesichts der Entwicklung zumindest nicht ungelegen kommen. Dass es sich dabei um Investitionen in die Krebsforschung handelt, könnte angesichts der Streichung von Forschungsgeldern hierzu in den USA ein weiterer Fingerzeig sein. Auch wird Deutschlands Medizinprodukte-Zugtier vermutlich schnell ins Visier geraten – verbringen die Erlangener doch vor allem Magnetresonanz- und Computertomographen oder Angiographiesysteme.
Wie essenziell stabile Preise für die Branche sind, erklärt Manfred Beeres, Leiter Kommunikation des BVMed, gegenüber DocCheck: „Die Branche ist auf reibungslose, globale Lieferketten angewiesen, um die kontinuierliche Versorgung mit lebenswichtigen Produkten sicherzustellen. Zölle gefährden diesen freien Warenverkehr und treiben die Kosten für die Branche in die Höhe. […] Solche Maßnahmen könnten die Verfügbarkeit dieser lebenswichtigen Produkte gefährden und den Zugang zu innovativen Lösungen einschränken.“
Eine Liste von dringenden versorgungsrelevanten Produkten mit besonderer Relevanz, die keinesfalls in den Handelskrieg fallen sollten, hat der Verband hier veröffentlicht.
Kommt es trotz der aktuellen Zollpause doch noch zu höheren Teuerungen, werden ebendiese Lieferketten noch stärker belastet und Produktionskosten angehoben. Lieferwege würden sich verändern und langfristig auch ein Qualitätsabfall einsetzen, indem Verlagerungen in günstigere Regionen (mit anderen womöglich niedrigeren Standards) vorgenommen würden.
„Wir hoffen, dass es in der 90-Tage-Pause zu Verhandlungsergebnissen zwischen den USA und der EU nach der Maßgabe ‚Zero for Zero‘ kommt“, erläutert Beeres. „Falls die US-Zölle kommen sollten, würden sie voraussichtlich erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Medizintechnik-Branche haben. [Sie] könnten diese Probleme weiter verschärfen und zu einer Erhöhung der Produktions- und Endverbraucherkosten führen.“
Weiterhin würden steigende Kosten die Finanzen der Krankenkassen stark strapazieren – und mit zeitlichem Verzug vermutlich ebenfalls beim Bürger ankommen. Viel unmittelbarer und gesundheitlich relevanter wären die Auswirkungen auf die Patientenversorgung und den Arbeitsalltag des Fachpersonals. Während letzteren für ein professionelles Arbeiten die medizintechnische Ausstattung fehlen würde, wären Patienten durch ausbleibende oder verlegte Versorgung betroffen; von qualitativ schlechteren Alternativen ganz zu schweigen.
Wie es jedoch ausgeht, werden die kommenden Tage zeigen. Derzeit liegt im Oval Office ein Angebot vor, das die gegenseitigen Zölle auf Autos und Industriegüter (worunter auch Medizinprodukte fallen würden) gänzlich aufheben würde. Status quo: Das ist dem orangenen Dealmaker zu wenig. Für den Fall, dass es dabei bleibt, arbeitet man unterdessen in Brüssel eine europäische Antwort aus.
Im Raum steht letztlich die Forderung des BVMed, der sich wohl alle (Produzenten) anschließen würden: „Wir fordern sowohl die US- als auch die EU-Seite auf, Medizinprodukte als essenzielle humanitäre Güter nicht in handelspolitische Auseinandersetzungen einzubeziehen.“
Wie konkret seid ihr betroffen? Habt ihr Bedenken, was euren Arbeitsalltag angeht? Meldet uns eure Fälle an news_redaktion@doccheck.com.
Bildquelle: Elevate, Unsplash