KOMMENTAR | Die neue Regierung kündigt Reformen an, doch echte Umbrüche bleiben aus. Was CDU und SPD beim Thema Gesundheit planen – und wie realistisch das ist.
Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen für die neue Bundesregierung zwischen CDU und SPD unter dem designierten Bundeskanzler Friedrich Merz wurden in verschiedenen Arbeitsgruppen Vorverhandlungen geführt und Ergebnispapiere erstellt. Eigentlich sollten diese Ergebnisse vertraulich bleiben, doch wie heutzutage üblich, waren die vollständigen Ergebnispapiere fast aller Arbeitsgruppen kurz nach Fertigstellung im Internet verfügbar.
So auch das Papier der AG 6 „Gesundheit und Pflege“. Auch wenn die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen sind, lohnt sich bereits jetzt ein Blick auf die vorläufigen Ergebnisse. In den meisten Punkten scheint man sich einig zu sein, denn es sind nur wenige Passagen markiert, in denen noch Uneinigkeit zwischen den Parteien besteht.
Was erwartet uns also in den nächsten vier Jahren mit der großen (oder kleinen) Koalition? In der Präambel werden zunächst die Ziele definiert: Die medizinische und pflegerische Versorgung soll gut, bedarfsgerecht und bezahlbar sein. Patienten sollen schnellere Termine bekommen, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen sollen sich verbessern und die Krankenkassenbeiträge sollen stabil bleiben. Dass dafür tiefgreifende Strukturreformen notwendig sind, wurde erkannt – so steht es zumindest wörtlich im ersten Absatz des Ergebnispapiers. Was folgt, gleicht jedoch eher einem bunten Maßnahmenkatalog als einer stringenten Strukturreform.
Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es besser ist, Krankheiten vorzubeugen, als hinterher zu versuchen, Schäden zu reparieren – Prävention soll in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Den Fokus legt die Koalition dabei auf die Kinder, hier kann man mit dem größten Hebel die Weichen richtig stellen. Dafür sollen die bestehenden U-Untersuchungen ausgeweitet werden – dabei fragen sich viele Eltern schon heute, ob mehr als zehn Vorsorgetermine nicht längst genug sind. Das Problem sind nicht zu wenige Untersuchungen, sondern deren mangelnde Inanspruchnahme. Deshalb soll auch das „Einladungswesen für alle“ weiterentwickelt werden. Darüber hinaus sollen vulnerable Gruppen stärker in den Blick genommen und das Thema „Einsamkeit“ angegangen werden.
Klingt nicht nach dem großen Wurf? Fairerweise muss man sagen, dass die wirksamste Prävention nicht vom Gesundheitssystem allein gesteuert werden kann. Hier könnten Verbesserungen im Bildungssystem mehr bewirken. Nur wer über gute Sprach- und Rechenkenntnisse verfügt, kann Gesundheitsinformationen verstehen und zu seinem (gesundheitlichen) Vorteil nutzen. Wenn die PISA-Ergebnisse in Deutschland so bleiben, wie sie sind, werden auch ein oder zwei weitere U-Untersuchungen nicht zu einem gesünderen Verhalten in der Bevölkerung führen.
Es gäbe aber auch Maßnahmen im Gesundheitssystem, die einen echten Paradigmenwechsel hin zu mehr Prävention einleiten könnten: Statt pro erbrachter Leistung oder behandeltem Krankheitsfall zu bezahlen, könnten Anreize für langfristig gute Ergebnisse geschaffen werden. Nicht die Behandlung, sondern das gute Ergebnis sollte belohnt werden. Von solchen innovativen Ansätzen ist im Koalitionspapier jedoch nichts zu finden.
Ein weiteres wichtiges Stichwort ist die Patientensteuerung. Um Wartezeiten zu verkürzen und den Zugang zu Fachärzten bedarfsgerecht zu gestalten, soll ein Primärarztsystem eingeführt werden. Dem Hausarzt kommt dabei eine wichtige Rolle als „Gatekeeper“ zu. Nur wenn dieser eine Überweisung ausstellt, soll ein Facharzttermin möglich sein. Ausnahmen sind unter anderem für Kinderärzte, Gynäkologen und für chronisch Kranke geplant. Im Gegenzug für die neue Regelung soll ein zeitnaher Termin beim Facharzt garantiert werden. Dieses System könnte tatsächlich zu einer effizienteren Ressourcennutzung führen.
Allerdings käme auf die Hausärzte ein deutlicher Mehraufwand zu, sodass gleichzeitig an anderer Stelle für mehr Nachwuchs und Entlastung der Hausärzte gesorgt werden müsste. Insgesamt hat sich ein mehr oder weniger ausgeprägtes Primärarztsystem in vielen Ländern bewährt. Es wird wohl auch in Deutschland kommen müssen, wenn der Zugang zu Fachärzten im Bedarfsfall erhalten bleiben soll.
Die Krankenhausreform soll in einigen Punkten nachgebessert werden. Zur Sicherung der Grundversorgung, insbesondere im ländlichen Raum, sollen Ausnahmeregelungen eingeführt werden. Die neuen Anforderungen für den Erhalt der Vorhaltevergütung werden vorerst entschärft. Damit können einige kleinere Krankenhäuser etwas länger überleben. Die dadurch entstehenden Mehrkosten übernimmt der Bund. Aber nicht nur das kostet zusätzliches Geld.
Auch im ambulanten Bereich wird mehr Geld verteilt: In unterversorgten Gebieten sollen Fachärzte entbudgetiert werden. Ihr Honorar wird dann nicht mehr ab einer bestimmten Patientenzahl gedeckelt. Wer mehr Patienten behandelt, soll dafür auch mehr Geld bekommen. Bei den Kinderärzten ist die Entbudgetierung bereits 2023 erfolgt, vor kurzem waren die Hausärzte an der Reihe, nun sollen teilweise auch die Fachärzte folgen. Unklar ist, wie ein unterversorgtes Gebiet definiert wird. Die Entbudgetierung scheint auf den ersten Blick eine naheliegende Maßnahme zu sein: Wer mehr Patienten behandelt, sollte dafür auch entlohnt werden.
Allerdings ist hier erneut das Prinzip des Bezahlens pro Patient oder pro Behandlung problematisch. Durch das Vergütungssystem besteht die Gefahr, dass eine angebotsinduzierte Nachfrage geschaffen wird: Wenn die Ärzte für mehr Patienten bezahlt werden, wird es mehr Patienten geben. Das kann positiv sein, wenn man davon ausgeht, dass sich bisher zu wenige Menschen fachärztlich behandeln lassen. Ansonsten birgt es die Gefahr der Überversorgung. Viel wird also davon abhängen, wie die Unterversorgung in einem bestimmten Bereich definiert wird, die dann zur Entbudgetierung führt.
Natürlich darf auch ein Abschnitt über Entbürokratisierung und Digitalisierung in der Vereinbarung nicht fehlen. Leider sind diese beiden Begriffe in der Vergangenheit allzu oft leere Worthülsen geblieben, sodass auch diesmal Zweifel bleiben, ob es am Ende wirklich ernstgemeint ist.
Problematisch sind vor allem die Kosten der geplanten Änderungen: Unter anderem durch bessere Prävention und das Primärarztsystem sollen ca. 4 Mrd. € pro Jahr eingespart werden. Dem stehen Mehrausgaben von ca. 7 Mrd. € pro Jahr gegenüber. Die bereits bestehenden massiven Finanzprobleme der Kranken- und Pflegeversicherung sollen durch Zuschüsse aus Steuermitteln gelöst werden. GKV und Pflegeversicherung dürfen in Zukunft auf ca. 15 Mrd. € pro Jahr zusätzlich hoffen. Die Kostenprobleme werden damit aber nicht gelöst. Wenn die Sozialversicherungsbeiträge weniger stark steigen, dafür aber die Steuern erhöht werden müssen, hilft das der arbeitenden Bevölkerung auch nicht. In den nächsten Jahren sollen zusätzlich Mittel aus dem „Sondervermögen“ helfen. Ca. 4 Mrd. € jährlich sollen für Transformationsfonds, „Ertüchtigung“ der Krankenhäuser für den Verteidigungsfall und energetische Sanierung bereitstehen.
Das zusätzliche Geld aus Steuern und Staatsschulden sollte nicht dazu verwendet werden, das System noch ein paar Jahre am Laufen zu halten und die strukturellen Probleme zu kaschieren. Vielmehr sollten damit „tiefgreifende Strukturreformen“ angegangen werden, wie es im ersten Absatz des Ergebnispapiers eigentlich heißt. Ganz so ernst meint man es am Ende wohl doch nicht damit. Echte Reformen würden mächtige Interessengruppen herausfordern – davor scheint die Koalition zurückzuschrecken.
Die nächsten vier Jahre wird es schon noch gut gehen.
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