Ein Rettungseinsatz, ein sterbender Patient – und an den Wänden Symbole des Hasses. Kann Menschlichkeit grenzenlos sein? Ein Fall, der moralische Klarheit fordert.
Ich rieche ihn, bevor ich ihn sehe.
Ein Gemisch aus Zigarettenrauch, grindigem Teppich und Schweiß schlägt mir aus der geöffneten Wohnungstür entgegen. Der säuerliche Geruch eines kranken Körpers, den das Alter zersetzt wie eine feuchte Zeitung im Regen. Dazu liegt eine Schwere in der Luft, eine Art klebrige Patina aus Jahrzehnten ungefilterter Gedanken. Mein Kollege geht voran, ruft den Namen des Patienten. Ich folge. Mein Blick schweift entlang der Wände – und bleibt hängen. Es ist, als betrete ich ein Museum der Menschenverachtung.
Hakenkreuze, daneben eine Vitrine voller Orden, sorgfältig aufgereiht, poliert, als seien sie Reliquien aus einer glorreichen Vergangenheit. Eine Reichskriegsflagge mit ihrem karmesinroten Tuch. Eine Hitlerbüste auf einem Regal, daneben ein Stapel Bücher, deren Titel mir in den Magen schlagen: „Mein Kampf“, „Der Untermensch“, „Die Judenfrage“ – vergilbte Seiten voller Hass, gestapelt zu einer Bibel des Abgrunds. Hass in gebundener Form, akribisch aufgereiht wie eine Sammlung kostbarer Schätze.
Hier wohnt Herbert Maier, achtzig Jahre alt, COPDist. Und ich soll ihm nun helfen. Herbert sitzt in seinem Sessel, den Oberkörper mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln abgestützt. Er kämpft um Luft. Die Haut erinnert an abgerahmte Milch, die Lippen an einen Bergsee im Winter. Die Routine eines Notfalleinsatzes läuft in meinem Kopf ab gleich einem Computerprogramm. Ein Griff in den Rucksack, Pulsoximeter raus. Sauerstoff vorbereiten. EKG anschließen. Doch meine Gedanken bleiben an den Wänden hängen, an diesen Symbolen und an dem, wofür sie stehen.
In meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass Hilfe keine Frage von Sympathie sein darf. Ich bin hier, um zu helfen, nicht, um zu urteilen. Mein Beruf macht keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Täter und Opfer, zwischen jenen, die helfen würden, und jenen, die tatenlos zusehen würden, wenn ich selbst in Not geriete. Aber hier in dieser Wohnung hinterfrage ich diese Regel und kann nichts dagegen tun. Was, wenn die Situation andersherum wäre? Wenn ich derjenige wäre, der auf dem Boden liegt, nach Luft ringt, mit schwachem Herzen und schwindendem Bewusstsein? Würde Herbert mir helfen? Oder würde er mich einfach sterben lassen, weil ich Strzoda heiße und italienisch-polnische Wurzeln habe?
Der Gedanke trifft mich härter als erwartet. Mein Blick bleibt an den Büchern hängen, an den sorgfältig aufgereihten Devotionalien einer mörderischen Ideologie. Dies ist keine alte Geschichte, kein zufälliger Fund aus Großvaters Nachlass – dies ist gelebte Überzeugung. Hier wohnt kein Verirrter, kein Unwissender, sondern ein Mann, der seine Weltanschauung bis heute zelebriert.
Und ich? Ich stehe jetzt hier und muss ihn retten, denn ich bin Notfallsanitäter. Ich bin kein Richter, kein Henker. Mein Beruf verlangt von mir, jeden zu behandeln. Opfer, Täter, gute Menschen, schreckliche Menschen. Aber genau hier, in diesem Moment, in dieser Wohnung, wird mir bewusst, was das bedeutet. Herbert ist nicht der Erste, dessen Überzeugungen mir zuwider sind. Ich habe mich um Alkoholiker gekümmert, die uns kurz zuvor noch beschimpft hatten. Ich habe Täter behandelt, die Menschen ins Krankenhaus geprügelt haben. Einmal habe ich einen Junkie versorgt, der kurz zuvor zugedrogt eine dreiköpfige Familie mit seinem Bus getötet hat und nun ohne einen einzigen Kratzer auf meiner Trage saß und sich nur über den Verlust seines Autos beklagte.
Aber hier, in dieser Wohnung, fühlt es sich anders an, denn Herbert hat sein Leben einem Hass verschrieben, der Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Seine Bücher, seine Fahnen, seine Symbole – sie sind kein Versehen, kein jugendlicher Fehltritt. Sie sind Absicht und Überzeugung.
Meine Hände arbeiten von selbst, doch mein Inneres sträubt sich. Ich spüre den Widerstand seiner Haut unter meinen Fingern, wenn ich die Elektroden anbringe. Sein Atmen rasselt wie ein Echo aus einer längst vergangenen Zeit. Es ist ein Körper wie jeder andere, schwach, sterblich, ausgeliefert – und doch fühlt es sich an, als würde ich nicht nur einen Menschen behandeln, sondern eine Idee, eine Überzeugung, die mich verachtet. Jeder Handgriff fühlt sich fremd an, mechanisch, als wäre es nicht mein eigener Wille, sondern die bloße Reflexbewegung eines gelernten Automatismus. Ich merke, wie meine Kehle trocken wird, als ich das Pulsoximeter an seinen Finger klemme, als ich seinen Puls spüre – so menschlich, so alltäglich. Und für den Bruchteil einer Sekunde durchzuckt mich ein absurder, quälender Gedanke: In diesem Moment bin ich sein Leben. Ich – ein Mensch, den er vielleicht nie als gleichwertig anerkannt hat. Vielleicht ist das die größte Ironie, die größte Tragik in diesem Raum: dass Menschlichkeit sich auch dort zeigt, wo sie nie erwidert werden würde.
Mein Blick streift noch einmal das Wohnzimmer mit der Flagge und den Büchern. Ich bleibe noch einmal an der Hitlerbüste hängen. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich darüber nach, sie mit einer unabsichtlichen Bewegung vom Regal zu stoßen und sie zu zerstören. Aber das würde nichts besser machen.
Gibt es eine Grenze? Einen Punkt, an dem Hilfe aufhören darf? Oder ist genau das der wahre Maßstab der Menschlichkeit: nicht zu unterscheiden zwischen denen, die es verdient haben, und denen, die es nicht verdienen? Einen kurzen Moment lang muss ich an meinen Ur-Großvater denken, der als polnischer Soldat an der Grenze zu Brest-Litowsk in einen Kugelhagel geriet und an dessen Tod nur noch eine übriggebliebene vergilbte Mitteilungspostkarte der Wehrmachtauskunftsstelle erinnert. Dann machen wir uns mit Herbert auf den Weg – in dem Wissen, dass er die Klinik vermutlich nie wieder verlassen wird.
Bildquelle: erstellt mit DALL-E