Nicht nur gesellschaftlich, auch medizinisch gehen die Meinungen auseinander, ob man Jugendlichen den Wunsch nach einem anderen Geschlecht erfüllen darf. Nun schafft erstmals eine Leitlinie Klarheit.
Udo Lindenberg besang vor 50 Jahren das Überbordwerfen geschlechtlicher Unterschiede – „bis auf den, dass die Jungs ein U-Boot in der Hose haben und die Mädchen einen Fjord“. Inzwischen weicht auch diese vermeintliche Gewissheit auf. Ein Baby kommt nicht mehr als Junge oder Mädchen zur Welt, sondern das Geschlecht wird ihm oder ihr anhand der primären Geschlechtsmerkmale zugewiesen. Das passt meist, aber nicht immer. Manche Kinder empfinden ihre Rolle und ihre Geschlechtsteile als so fremd, dass sie existentiell darunter leiden. Geht das Fremdsein über bloßes Hadern mit dem Status als Junge oder Mädchen hinaus, spricht man von Geschlechtsinkongruenz, leidet die Person darunter massiv, von Geschlechtsdysphorie.
Jetzt hat die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zusammen mit 25 weiteren Fachorganisationen und zwei Betroffenenverbänden die über 400 Seiten starke S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ veröffentlicht. Doch die Leitlinie hat nicht nur Befürworter: So lag die Konsultationsfassung nicht nur ungewöhnliche lange zum Kommentieren aus, sie rief auch ungewöhnliche Kritiker auf den Plan. Der Deutsche Ärztetag etwa fühlte sich bemüßigt, den Experten der Leitliniengruppe mit der Forderung an die Bundesregierung reinzugrätschen, Eingriffe an Jugendlichen nur im Rahmen klinischer Studien zuzulassen. Pubertätsblocker und Hormone zur Geschlechtsumwandlung seien schließlich „eine Form experimenteller Medizin an Kindern“.
Angesichts dieser scharfen Worte besticht die Leitlinie umso mehr durch ihre wissenschaftliche Sachlichkeit. So weisen die Autoren explizit auf die Möglichkeit hin, dass Menschen die Entscheidung zur Geschlechtsumwandlung später bereuen können. Fallberichte machen nachvollziehbar, welche inneren Konflikte Kinder und Jugendliche austragen, die so sehr unter ihrem zugewiesenen Geschlecht leiden, dass sie selbst massive, größtenteils unumkehrbare Eingriffe vornehmen lassen möchten. Auch wird die Detransition, die Abkehr von medizinischen Maßnahmen, ausführlich thematisiert.
Doch klar wird auch: Der körperlichen Entwicklung einfach ihren Lauf zu lassen, wie es offenbar den Ärztetag-Delegierten vorschwebt, verschärft die Lage der verzweifelten Kinder und Jugendlichen noch, indem es zu „Verschlimmerung und Chronifizierung eines geschlechtsdysphorischen Leidenszustandes“ führen würde. Einfach abzuwarten, ist also „keine neutrale Option“.
Die Autoren der Leitlinie halten deshalb für Kinder und Jugendliche Pubertätsblocker, geschlechtsangleichende Hormone und auch Operationen bei entsprechender Diagnose und langem, hohem Leidensdruck für zulässig und auch geboten – mit entsprechender Aufklärung, psychologischer Begleitung und Einzelfallabwägung, versteht sich. Eine harte Grenze für den Einsatz von Pubertätsblockern ziehen sie bei der Pubertät, genauer beim Tanner-Stadium 2 mit beginnendem Penis- beziehungsweise Brustwachstum sowie flaumig sprießendem Schamhaar. Vor der Pubertät seien „Empfehlungen für jedwede medizinische Intervention zur Unterstützung einer Transition obsolet“.
Umfragen bestätigen den Erfolg der Eingriffe während der Pubertät. Sie zeigen, dass auch viele Jahre danach nur ein Bruchteil der Betroffenen die Einnahme von Pubertätsblockern und Hormonen bedauert. Im Schnitt sind die Behandelten selbst sowie ihre Eltern mit der Entscheidung zur Geschlechtsumwandlung sehr glücklich.
Dass es bei dem Thema nicht nur einen gesellschaftlichen, sondern teilweise auch fachlichen Dissens gibt, zeigen die Sondervoten innerhalb der Leitliniengruppe. Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie und die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft formulieren je zwei Sondervoten. Die Betroffenenverbände weisen darauf hin, dass sie drei ursprüngliche Empfehlungsformulierung aus der Konsultationsfassung bevorzugen. Die Sondervoten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde füllen im Anhang zwar ganze 32 Seiten, doch wünscht sich die Gesellschaft oft nur eine stärkere Empfehlung, etwa dass man bei der Diagnostik auf Depression, Angststörung sowie auf selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität achten „soll“ und nicht nur „sollte“.
Die Leitlinie diskutiert das Thema mit Differenzialdiagnosen, Komorbiditäten, Aufklärung, Rechtslage und vielen anderen Aspekten so umfassend und ausgiebig, dass eine Patientenleitlinie von unschätzbarem Wert wäre. Dann können sich Eltern, Kinder und Jugendliche selbst ein umfassendes Bild machen.
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