No glory in prevention – was für Pandemien gilt, ist auch im Knast wahr. Keiner sagt: Dank dir haben 34 Mitarbeiter letztes Jahr den Häftlingen nicht die Zähne ausgeschlagen, nachdem ihnen ins Gesicht gespuckt wurde. Wie ich mich trotzdem motiviere.
Morgens in der Justizvollzugsanstalt. Ich stemple ein, hole meine ersten Arbeitsaufträge in der Poststelle, begrüße alle freundlich, schließe mich in Ruhe auf meine Station durch, hole meine Antragscheine im Verteilerraum, begrüße wieder alle freundlich, begebe mich in mein Büro und arbeite den Rest des Tages in Ruhe meine Arbeit weg. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren auch zwei Tage, die so abliefen. In der Regel passiert aber viel auf dem Weg von der Torwache bis zu meinem Büro. Werde ich bereits beim Einstempeln abgefangen, wird es meist kein ruhiger Tag.
„Kannst du bei Gelegenheit mal so schnell wie möglich bei der Gleixner anrufen?“ Die Anzeige auf der Stempeluhr ist noch nicht mal erloschen, da weiß ich schon: Das wird auf keinen Fall ein ruhiger Tag. „Bei Gelegenheit so schnell wie möglich“ bedeutet hier drinnen nichts anderes als: Die Kacke ist am dampfen. Frau Gleixner ist meine Abteilungsleiterin, und wenn die explizit die Psychologin verlangt, ist garantiert etwas Blödes passiert. Entweder ist was Blödes passiert und einem Kollegen geht es nach einem Vorfall richtig dreckig, oder was Blödes ist passiert und der Psychologe soll pro forma bei dem Gefangenen vorbeischauen, um das Ganze ordentlich im Protokoll festzuhalten. In jedem Fall ist was Blödes passiert.
„Besondere Vorkommnisse“, wie es so schön heißt, kommen meist nicht vor, wenn das Haus voll besetzt ist, sondern nachts oder ganz in der Früh zur Aufschlusszeit. Ein „besonderes Vorkommnis“ ist beispielsweise ein Fluchtversuch, ein Angriff auf Bedienstete, ein Suizidversuch, ein vollendeter Suizid oder ähnliches.
Einige unserer Juristen halten Psychologen im Grunde für überbezahlte Akademiker mit Gleitzeit. Und häufig wird auch einfach vergessen, dass wir hier arbeiten. Zu bestimmten Gelegenheiten wird sich dann aber doch an unsere Anwesenheit erinnert. Wenn da zum Beispiel ein Gefangener ist, der sich immer absurder verhält und man sich einfach nicht erklären kann, warum. Wenn einer droht sich umzubringen oder sich die Arme aufschneidet und kein BgH (Besonders gesicherter Haftraum) mehr frei ist. Oder aber, wenn es einem Kollegen schlecht geht. Weil: Den Schuh will man sich nicht anziehen. Noch dazu könnte es sein, dass der Kollege sich sonst krankmeldet und da man chronisch unterbesetzt ist, gilt es, das zu verhindern.
In den letzten zehn Jahren hat sich etwas verändert. Ich suche sicherlich doppelt so viele ambulante Therapieplätze für Kollegen aus dem Internet wie noch vor fünf Jahren. Zum Teil liegt es das daran, dass die Zeiten rauer werden. Die Gefangenen werden immer auffälliger. Aggressiver, psychotischer, traumatisierter. Kaum mehr absprachefähig und insgesamt schwer auslenkbar.
Während vor zehn Jahren der Gang noch geprägt war von Körperverletzern und Bandenkriminalität, ist er jetzt voll von Substanzabhängigen und schwerst Traumatisierten. Früher bestand ein großer Teil unserer Klientel aus Russen, Hells Angels und Bandidos. Alles „anständige Lumpen“ (= Gefangene), wie hier drinnen gerne gesagt wird. Die können mit Hierarchien umgehen, denn in ihrer eigenen kriminellen Welt herrscht eine ziemlich strenge Hierarchie. Es gibt Regeln und an die wird sich gehalten oder es tut weh. Man hat damals noch Tacheles reden und einen Deal aushandeln können. Ihr benehmt euch, und wir lassen euch in Ruhe. Das Personal konnte damals auch mit Gewalt und Einschüchterung noch viel erreichen.
Aber im Laufe der Jahre haben sich so etwas wie Menschenrechte den Weg in den Vollzug gebahnt. Die Sache mit der Gewaltenteilung wird immer ernster genommen, und überall auf den Gängen hängen Kameras. Man möchte in Deutschland nicht mehr, dass Polizei und Vollzugsdienste auf die Leute einprügeln und die Gefangenen durch Angst gefügig gemacht werden. Das macht die Arbeit natürlich auch komplizierter: Man muss diskutieren, vielleicht verhandeln und eine Beziehung aufbauen. Trotzdem darf man nicht an Autorität einbüßen. Autorität ohne Angst und Einschüchterung ist eine großartige Sache – und unfassbar schwer zu erreichen.
Wir verlangen viel von unseren Bediensteten. Die Mittel und Argumente, die ihnen rechtlich sauber als „Strafe“ zur Verfügung stehen, verursachen bei vielen Gefangenen nicht mehr als ein müdes Lächeln. Noch dazu erfolgt selten eine unmittelbare Konsequenz. Denn echte Strafen, wie der Arrest oder der Fernsehentzug (ja, auch das machen wir hier) kann der Beamte des AVD (allgemeiner Vollzugsdienst) gar nicht anordnen. Dazu braucht es erst einen Juristen und eine ordentliche Anhörung. Gewaltenteilung eben.
Bis der Gefangene dann in den Arrest geht (oft ist wochenlang keiner frei), weiß der schon gar nicht mehr, worum es eigentlich ging. Für die betroffenen Bediensteten ist das alles andere als befriedigend. Stell dir vor, ein Gefangener schlägt dir seinen Teller ins Gesicht aus reiner Unzufriedenheit, weil er beispielsweise nicht in den Sportraum darf. Vielleicht bricht er dir sogar die Nase. Im weiteren Verlauf bist du in der Regel weder dabei, wenn der Gefangene zur Sache angehört wird, noch bekommst du mit, dass er seine Strafe antritt. Wie ein Geschwür wuchert das Gefühl in deinem Kopf „die Gefangenen können machen, was sie wollen, es passiert eh nix“.
Gleichzeitig vermehrt sich deine Überzeugung, in deinen eigenen Bedürfnissen nicht ernst genommen zu werden, am Ende sogar in deinen Anliegen und Sorgen als unwichtig erachtet zu werden. Das Geschwür wird so mächtig, dass es droht, dein System lahmzulegen. Der Zorn wird immer heißer, die Ohnmacht immer mächtiger und schließlich manifestiert sich das ganze Konstrukt in einem unzerstörbaren Klumpen aus Sarkasmus und Frustration.
Der durchschnittliche Beamte reagiert auf diese geistige Pest mit seiner stärksten Waffe: der Krankmeldung. Ist man in den Genuss einer Verbeamtung gekommen, gibt es kein Krankengeld. Man erhält anstatt dessen 100 % seines Gehaltes, egal, wie lange man krank ist. Und mal ehrlich: Mit dem, was man hier drinnen jeden Tag erlebt, schreibt einfach jeder Arzt einen ohne mit der Wimper zu zucken quasi unbegrenzt krank. Ausfälle von mehreren Monaten bis zu zwei Jahren sind keine Seltenheit. Die Folge: Ein Kollege weniger, dessen Dienste auf die verbliebenen Schultern verteilt werden.
Zurück zu den Gefangenen. Viele von ihnen wollen sich auch benehmen. Aber es gelingt ihnen nicht. Sie würden uns gerne in Ruhe lassen. Aber sie haben so viele Dämonen in ihren Köpfen, dass es einfach immer wieder knallt. Die meisten sind keine schlechten Menschen – aber sie haben ihr Leben lang erfahren, dass man nichts und niemandem vertrauen kann. Und so benehmen sie sich auch. Sie kommen aus Regionen der Welt, in denen seit mehr als 100 Jahren Krieg herrscht. Wo man auf eine Mine tritt, wenn man den Feldweg verlässt, wo täglich Todesnachrichten ins Haus flattern. Die Cousine, die Schwester, der Bruder, die Ehefrau. Sie wollte das gemeinsame Kind zur Schule bringen, damit es sicher ankommt. Da kam ein Auto vorbeigefahren und schoss beide tot. Die haben nicht mal angehalten. Die Leichen liegen noch auf der Straße.
Auch ein Gefängnis sieht im Sudan nun einmal anders aus als hier. Dort wird gefoltert, um „Geständnisse“ zu erhalten oder einfach, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Ob du die Haft überlebst, ist nicht sicher. Erst gestern erzählte mir ein junger Syrer mit brüchiger Stimme, er sei mit 13 in der Heimat inhaftiert gewesen „da haben die mein Fingernägel so abgemacht“. Jetzt sitzt er hier mit multiplen Diagnosen und bringt Psychiater, Ärzte, den AVD und mich an die Grenzen unserer Weisheit.
Es ist schwer mit jemandem ein geregeltes Zusammenleben zu organisieren, der davon ausgeht, jeder will ihm aus tiefstem Herzen Böses, will ihn verletzen und töten. Der Mensch an sich will leben und dafür tut er so einiges. In der Folge sind Menschen bereit, sehr weit zu gehen, um ihr Leben zu verteidigen. Dass bei uns ihr Leben nicht in Gefahr ist, prägt sich so schnell nicht in ihre synaptischen Bahnen. Da, wo sie herkommen, bedeutet es den Tod, wenn man von zwei Personen in Uniform abgeholt und irgendwo hingebracht wird. Hier im Gefängnis bedeutet das lediglich, dass man einen Termin beim Psychiater oder beim Anwalt hat.
Zurück zu meinem Tag. Ich habe mir vorsichtshalber eine Notiz geschrieben, dass ich Frau Gleixner anrufen muss. Bis zum Stationsbüro läuft es dann geschmeidig. Dort aber sehe ich meinen Kollegen Heiner und der sieht gar nicht gut aus. Ich schnaufe innerlich tief durch und setze mich. „Du siehst scheiße aus.“ „Ich bin am Arsch. Echt RICHTIG am Arsch.“ Das dauert länger. Und ist natürlich wichtiger als der Rest. Ich ziehe meine Jacke aus und setze mich. Ein anderer Kollege kommt rein und erkennt sofort die Situation „Oh, kann ich oder habt ihr grad…“ – Ich: „ja, wir haben grad. Sorry.“ Der Kollege zieht sich zurück.
Heiner hat zu viele Baustellen. Zwei kleine Kinder, ein kaputtes Knie und viel zu viele Krankheitstage. Könnte ihm wurscht sein, weil als Beamter ist man nur schwer kündbar und das mit der Kohle ist ja wie gesagt auch kein Problem. Aber es bleibt das Gefühl, die Kollegen im Stich zu lassen. Es bleibt, dass die Diensteinteilung die Nase über einen rümpft. Es bleibt, dass man bei der Beurteilung weniger Punkte bekommt (auch, wenn dies offiziell nicht passieren darf) und somit die Beförderung deutlich später kommt. Man wäre halt lieber zuverlässig. Man wäre halt lieber gesund. Heiner ist das aber nicht.
Drei Suizide hatte er dieses Jahr in seiner Schicht und mehrfach haben Gefangene die Kollegen angegriffen. Nicht bei all dem war er live dabei, aber irgendetwas bleibt. Bei jedem „besonderen Vorkommnis“ gehen nicht nur die Primärtraumatisierten verkorkst aus der Situation raus, auch die sogenannten „sekundär Betroffenen“ machen uns in den Tagen und Wochen danach noch Sorgen. „Ich hätte das auch sein können“, „jeden kann es treffen“ und am Ende das Gefühl „Ich bin hier nicht sicher“. All das sickert in der Zeit nach einem Vorfall durch die Köpfe der Belegschaft wie eine giftige Suppe.
Wir Psychologen sind nicht nur für die Betreuung der Gefangenen zuständig. Gewünscht ist auch eine Betreuung des AVD – auf dass es möglichst wenig psychisch bedingte Krankheitsausfälle gebe, möglichst wenig Kollegen dem Alkoholismus verfallen und am liebsten würde man auch nicht in der Zeitung lesen, dass ein „Wärter“ ausgeflippt sei und einen Gefangenen krankenhausreif geschlagen habe. Bis vor einigen Jahren war die mangelnde Compliance der Kollegen die größte Hürde für dieses Unterfangen. Man sprach nicht mit der Psychologin – und wenn, dann nur heimlich. Für den ein oder anderen Kollegen musste ich tatsächlich den Gang checken, bevor er aus meiner Bürotür trat, damit ja keiner sieht, dass er bei mir im Gespräch war. Heute melden sich die meisten offiziell beim Dienstleiter ab, dass sie „mal kurz zur Charlotte gehen“ – es hat sich viel getan.
Das Undankbare an unserem Beruf ist, dass wir unseren Erfolg nur selten wirklich sehen und messen können. Nur den Misserfolg. Den Suizid, den alkoholkranken Kollegen, die Ehe, die an den Problemen gescheitert ist, die der Kollege mit nach Hause nahm und auf seiner Frau ablud. Es gibt keine Statistik, die besagt „im Jahr 2024 haben 34 Bedienstete des AVD dem Gefangenen, der ihnen ins Gesicht gespuckt hat NICHT die Zähne ausgeschlagen, weil sie durch die Hauspsychologin ausreichende Skills und Strategien an die Hand bekamen, um die Situation verbal zu deeskalieren.“
Es schreibt auch niemand, dass „75 Bedienstete KEINEN Burnout entwickelt haben, weil die Psychologin ihnen rechtzeitig ihre Dekompensation vor Augen geführt und ihnen bei der Suche nach einem Therapieplatz geholfen hat“. Man darf sich nur gelegentlich von den Abteilungsleitern mal anhören, ob denn wirklich jeder immer gleich nach Hause geschickt werden muss, wenn er was Schlimmes erlebt hat. Manchmal würde arbeiten doch auch helfen. Joah … gegen den Schmerz anzulaufen hilft aber nicht, wenn das Bein gebrochen ist. Und selbstverständlich empfehlen wir nicht JEDEM nach Hause… aber warum rechtfertige ich mich eigentlich?
Keine Ahnung, wie ich mich motiviere. Die Kollegen bedanken sich bei mir, wenn es ihnen besser geht. Und angeblich hat neulich einer zu einem „Hardliner“ gesagt „Geh mal zur Charlotte. Das hilft echt.“ Und angeblich hat der gesagt „vielleicht mach ich das echt mal“.
Heiner hat noch diese Woche ein Gespräch mit einem externen Kollegen. Dort bekommt er, wenn alles glatt läuft, einen ambulanten Therapieplatz. Der Kollege wird Heiner mit Sicherheit raten, erstmal daheim zu bleiben. Ihn vielleicht sogar stationär schicken. Heiner somatisiert nämlich schon mächtig. Hat jeden Sonntagabend Bauchkrämpfe und Durchfall, wenn er Montag in die Arbeit muss. Die Ehe steht auf dem Spiel, weil es so viel Streit gibt und seit zwei Monaten hat er eine unappetitliche Neurodermitis. Heiner ist am Arsch. Das hat er schon ganz richtig eingeschätzt.
Ich habe meine Abteilungsleiterin und die Diensteinteilung im Ohr, als ich Heiner mitteile: „Du wirst nicht alles am Laufen halten können. Irgendwas wirst du gegen die Wand fahren. Entweder deine Arbeit, deine Ehe oder deine Gesundheit.“ Eine systemische Frage, die darauf abzielt, dass Heiner selbst auf die Idee kommt, sich eine Auszeit zu nehmen und sich um seinen Kopf zu kümmern. Aber schlecht durchgeführt, denn es war ja keine Frage. Und auch ein bisschen zu offensichtlich. Aber so auf die Schnelle scheine ich einen Treffer gelandet zu haben. Heiner überlegt.
Ich ziehe weiter in mein Büro und telefoniere endlich mit Frau Gleixner. Im BgH hat sich einer massiv geschnitten. Hat Rasierklingen in irgendeiner Körperöffnung in den gekachelten, trostlosen Raum geschmuggelt und sich dann demonstrativ mehrere Male quer über die Brust geschnitten, während er provokativ in die Kamera gegrinst hat. „Ich spreche mit ihm, sobald er vom Arzt zurück ist“.
Als ich mittags wieder im Stationsbüro vorbeikomme, ist Heiner weg. Der Dienstleiter wirkt verschnupft: „Nach deinem Gespräch hat er sich nicht gut gefühlt und ist heimgegangen. Er meinte, er kommt morgen wahrscheinlich auch nicht.“ Ein kleiner Erfolg. Auch wenn dieser auf Kosten der Kollegen geht, die seine Schicht übernehmen müssen.
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