Neurowissenschaftler entdeckten im Zuge einer Studie einen Anpassungsmechanismus des Gehirns bei der Wahrnehmung von Buchstaben. Bislang gingen die Forscher davon aus, dass es sich bei diesem Phänomen um eine gesichtsspezifische Ausnahme handelt.
Die Scheinwerfer – zwei Augen, der Kühlergrill – ein lächelnder Mund: So mancher Autofront gibt unser Gehirn bei genauer Betrachtung ein Gesicht. Auch in anderen Objekten, ob Gebäudefassaden, Bäumen oder Steinen, lässt sich oftmals ein „menschliches Antlitz“ erkennen. Den Grund dafür kennt Prof. Dr. Gyula Kovács von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. „Gesichter haben für uns Menschen eine immens große Bedeutung“, erläutert der Neurowissenschaftler. Daher habe sich im Laufe der Evolution unsere visuelle Wahrnehmung auf das Erkennen von Gesichtern besonders spezialisiert. „Das führt dann häufig soweit, dass wir Gesichter auch dort erkennen, wo es gar keine gibt.“ Bislang gingen die Forscher davon aus, dass es sich bei diesem Phänomen um eine gesichtsspezifische Ausnahme handelt. Wie Prof. Kovács und seine Kollegin Mareike Grotheer in einer aktuellen Studie jedoch zeigen konnten, funktioniert dieser ausgeprägte Anpassungsmechanismus nicht nur beim Erkennen von Gesichtern. In der Fachzeitschrift „The Journal of Neuroscience“ haben die Jenaer Forscher erstmals einen solchen Effekt für das Erkennen von Buchstaben nachgewiesen. Die Grundlage dafür ist die Plastizität des Gehirns, durch die wir in der Lage sind, uns an Umweltreize anzupassen. „Je häufiger wir einem bestimmten Reiz ausgesetzt sind, umso schneller nehmen wir ihn wahr“, erläutert Mareike Grotheer, Doktorandin in Kovács Team. Dieser „Trainingseffekt“ lasse sich im Gehirn direkt messen. Wie Magnetresonanzaufnahmen zeigen, führen Umweltreize, an die das Gehirn bereits angepasst ist, zu deutlich geringeren Reaktionen in den verarbeitenden Arealen. „Das mag zunächst paradox klingen, bedeutet aber nichts anderes, als dass das Gehirn mit geringerem Energieaufwand zum gleichen Ergebnis kommt“, macht Kovács deutlich.
Dieser Anpassungsmechanismus ist immer dann besonders ausgeprägt, wenn es sich um Situationen handelt, in denen wir ganz bestimmte Reize erwarten. „Unsere bisherige Erfahrung moduliert unsere Sinneswahrnehmung ganz wesentlich“, unterstreicht Kovács. Auch beim Erkennen von Buchstaben spielt Erfahrung die entscheidende Rolle. Praktisch überall in unserer Umwelt treffen wir auf Buchstaben: in den Medien, im Straßenbild, auf Alltagsgegenständen. In ihrer Studie haben die Forscher Probanden unterschiedliche Buchstabenreihen gezeigt und die beim Sehprozess entstandene Gehirnaktivität im Magnetresonanztomographen aufgezeichnet. „Die Aufnahmen belegen deutlich, dass sich die Hirnaktivität im Verlauf der Messung an die visuelle Wahrnehmung der Buchstaben anpasst“, so Kovács. Allerdings nur, wenn es sich um korrekte lateinische Schriftzeichen handelt. In einer parallel laufenden Versuchsreihe mit verfremdeten Buchstaben konnten die Jenaer Wissenschaftler keine entsprechende Adaptation feststellen.
Dies lege nahe, so resümiert Prof. Kovács, dass die Lese- und Schreiberfahrung der Testpersonen für diese Anpassung verantwortlich ist. Ob sich die Anpassungsfähigkeit des Gehirns für das Erkennen von Buchstaben gezielt trainieren lässt oder – wie bei der Wahrnehmung von Gesichtern – das Ergebnis evolutionärer Entwicklungsprozesse ist, müssten kommende Untersuchungen zeigen. Originalpublikation: Repetition probability effects depend on prior experiences Gyula Kovács et al.; The Journal of Neuroscience, doi: 10.1523/JNEUROSCI.5326-13.2014; 2014