Die Schaffung künstlicher Spiegelorganismen ist der neue heiße Scheiß in der Chemie. Doch wie so oft hat der Fortschritt seine Schattenseiten. Was wäre zum Beispiel, wenn wir den Doppelgängern immunologisch nichts entgegensetzen könnten?
Wenn wir an den Chemieunterricht zurückdenken, dann erinnern wir uns, dass es Moleküle gibt, die mit den gleichen Atomen und demselben Molekulargewicht in mehreren Versionen existieren können. Denken wir nur an Glucose (C6H12O6), die am häufigsten vorkommende organische Verbindung auf der Erde. Glucose enthält mehrere Kohlenstoffatome, die Verbindungen in unterschiedlichen Konstellationen haben können, also asymmetrisch sind (chirale Zentren). Diese Asymmetrie ermöglicht unterschiedliche räumliche Anordnungen, wodurch Stereoisomere mit unterschiedlichen biologischen Funktionen entstehen, z. B. D-Glucose und L-Glucose.
Obwohl beide spiegelbildlich sind (Enantiomere), unterscheiden sich ihre physiologischen Rollen aufgrund der Enzymspezifität erheblich, weil sie wegen ihrer räumlichen Unterschiede nicht immer in die entsprechenden Rezeptoren auf Zellen oder Enzymen passen. D-Glucose (Dextrose) wird von lebenden Organismen metabolisiert und vor allem zur Energiegewinnung durch Glykolyse verwendet. L-Glukose kommt in der Natur kaum vor, wird nur minimal absorbiert, schmeckt aber trotzdem süß (weil sie trotz ihrer Chiralität die Geschmacksrezeptoren TAS1R2/TAS1R3 aktiviert) und kann deshalb als kalorienarmer Süßstoff verwendet werden.
Auch in der Pharmakologie kann man sich Chiralität zunutze machen. Beispiel: Zwei Enantiomere des Betablockers Nebivolol haben unterschiedliche Funktionen auf das kardiovaskuläre System. Während D-Nebivolol als kardioselektiver Betablocker wirkt, stimuliert die L-Version die Endothelium-abhängige NO-Synthese und damit eine Vasodilatation.
Heutzutage nutzen Forscher Computerchemie, künstliche Intelligenz, molekulares Docking und automatisierte Syntheseplanung, um neue Moleküle zu entwerfen und zu optimieren. Positive Effekte dieses enormen Fortschritts sind eine Beschleunigung der Arzneimittelentwicklung mit reduzierten Kosten und weniger experimentellem Arbeitsaufwand. Aber wie so oft kann Fortschritt auch seine Schattenseiten haben. Angetrieben von Neugier und durch auf den ersten Blick plausibel wirkende Anwendungsmöglichkeiten, begannen einige Forscher mit der Arbeit an der Schaffung von Lebensformen, die ausschließlich aus spiegelbildlichen biologischen Molekülen bestehen. Da spiegelbildliche Moleküle normalerweise nicht mit Rezeptoren, Antikörpern oder anderen durch die Evolution entwickelten Abwehrmechanismen reagieren, ist eine sorgfältige Diskussion über die Machbarkeit und Risiken der Erzeugung von Spiegelorganismen, insbesondere Viren und Bakterien, geboten.
Dabei müssen Faktoren wie Art, Ausmaß und Wahrscheinlichkeit potenzieller Schäden, die Wahrscheinlichkeit eines versehentlichen oder absichtlichen Missbrauchs und die Wirksamkeit möglicher Gegenmaßnahmen berücksichtigt werden. Hierzu hat kürzlich eine Gruppe aufgefordert, die sich aus Experten mit Fachwissen in synthetischer Biologie, Physiologie und Immunologie von Mensch, Tier und Pflanze, mikrobieller Ökologie, Evolutionsbiologie, Biosicherheit, globaler Gesundheit und Politikgestaltung zusammensetzt. Darunter sind auch Forscher, die die Schaffung von Spiegelleben als langfristiges Ziel betrachten.
Die Gruppe warnt, dass Spiegelbakterien wahrscheinlich viele Immunmechanismen umgehen, die durch chirale Moleküle vermittelt werden, und möglicherweise tödliche Infektionen bei Menschen, Tieren und Pflanzen verursachen könnten. Selbst ein Spiegelbakterium mit einem kleineren Wirtsspektrum und der Fähigkeit, nur in eine begrenzte Anzahl von Ökosystemen einzudringen, könnte noch immer beispiellosen und irreversiblen Schaden anrichten. Muss es so schlimm kommen? Nicht unbedingt, denn unter der Annahme, dass die Chiralität dazu führt, dass zum Beispiel spiegelbildliche Viren nicht durch Antikörper aufgefangen werden können, sollte man unter derselben Theorie auch mutmaßen, dass es den Viren selbst schwerfallen dürfte, sich an die nötigen Rezeptoren im Organismus zu binden, um eine Infektion auszulösen. Weitere Diskussionen sind also erforderlich.
Während sich natürliches Leben (einschließlich der Abwehrmechanismen) im Rahmen der Evolution langsam entwickelt hat, sind im Labor produzierte spiegelbildliche Biomoleküle resistent gegenüber natürlichen Abwehr- und Abbauprozessen, denn sie waren ja nicht der Evolution ausgesetzt. In ihrem Artikel, der kürzlich in Science erschienen ist, wollen die Wissenschaftler nicht unbedingt ein apokalyptisches Szenario an die Wand malen, aber auf jeden Fall die Forschergemeinschaft zu verantwortungsvollem Handeln auffordern. Dazu gehören z. B. Computermodelle über mögliche Rezeptorbindungen.
Die globale Forschergemeinschaft, politische Entscheidungsträger, Forschungsförderer, die Industrie und die Öffentlichkeit wurden im Artikel eingeladen, an dieser Diskussion teilzunehmen. Um ein besseres Verständnis der mit Spiegelleben verbundenen Risiken zu ermöglichen, ist geplant, weitere Diskussionen zu diesen Themen einzuberufen. Es scheint wieder einmal darum zu gehen, dass Wissenschaftler und die Gesellschaft insgesamt einen verantwortungsvollen Umgang mit einer Technologie verfolgen müssen, die nie dagewesene Risiken bergen könnte.
Den besprochenen Artikel haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Erik Eastman, Unsplash